Selektiver Mutismus: Stilles Kind, stumme Pein
Sie verstummt, wenn der Lehrer eine Frage stellt - erstarrt, wenn sie Brötchen kaufen soll. Luisa kann nicht mit jedem und überall sprechen. Die Elfjährige leidet an selektivem Mutismus.
Das Puzzle an der Wand nimmt viel Platz ein. Verästelt sich. Macht sich breit. Es besteht aus Fotos, deren Rahmen sich einhaken, zueinander passen, aber auch Lücken lassen. Das Puzzle will weiter wachsen. Mit Leben gefüllt werden. Mit Luisa. Obwohl man jetzt schon meint, doppelt zu sehen, schaut man sich die Aufnahmen länger an. Luisa als Baby. Luisa als Schulkind. Luisa als Prinzessin. "Sie ist mein Lieblingsmotiv", sagt die Mutter. Luisa sagt nichts.
Überhaupt sagt Luisa wenig. Die Elfjährige sitzt mit ihren Eltern am Esstisch. Mit Blick auf die Fotocollage. Familie Ruppert wohnt in einem kleinen Haus am Rande von Hannover. Ein idyllischer Ort, ein sauberes Wohnzimmer, die Tür zur Terrasse steht offen. Es ist ein warmer Tag, der Garten gepflegt. Doch das Mädchen möchte nicht nach draußen. Spielen gehen. Es spielt bloß an seinem Pullover. Versteckt die Hände in den Ärmeln. Murmelt Einsilbiges. "Eigentlich nicht", "eigentlich schon", "manchmal". Das ist ein Fortschritt. Letztes Jahr reagierte Luisa noch ganz anders, wenn ihr eine Frage gestellt wurde. Sie senkte den Blick. Klemmte die Arme an den Körper. Und schwieg.
Luisa leidet an einer emotional bedingten Sprachstörung, die wenig bekannt ist, aber nicht selten vorkommt. Selektiver Mutismus beschreibt die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Personen zu reden. Betroffene versteinern, wenn sie in der Öffentlichkeit angesprochen werden, sind nicht in der Lage zu antworten. Dabei beruht selektiver Mutismus nicht auf fehlenden Sprachfertigkeiten oder ausgeprägter Schüchternheit. Vielmehr handelt es sich um eine Blockade, in die Betroffene geraten. Eine Art Schockzustand.
Dies ist ein Text aus der sonntaz, die am 30. April erscheint – unter anderem mit einem Interview mit der Vizechefin der Linkspartei Sarah Wagenknecht, Apples iPad im Selbstversuch und einem Rückblick auf die "Freundliche Übernahme" der taz. Das alles zusammen mit der aktuellen taz ab Samstag am Kiosk.
Die Störung tritt meist im Kindes- oder Schulalter auf, bei Mädchen häufiger als bei Jungen. "Es ist noch immer erwünscht und akzeptiert, dass sich Mädchen zurücknehmen", begründet das Alexandra Kopf. Die Sprachtherapeutin hat sich auf das Krankheitsbild spezialisiert und die Selbsthilfegruppe "StillLeben" in Hannover mitgegründet. "Schätzungen schwanken zwischen einem und sieben von tausend Kindern, die betroffen sind", sagt sie. "Ich glaube eher an sieben von tausend Kindern."
Es ist schwierig, eine Zahl festzulegen, weil selektiver Mutismus oftmals unerkannt bleibt. Die Kinder verhalten sich zu Hause völlig normal, manchmal sogar extrem lebhaft. Aus Nachholbedarf. Macht dann doch mal ein Lehrer die Eltern auf ihr zurückhaltendes Kindes aufmerksam, gehen diese als Erstes zum Arzt. Und der kennt vielfach nur einen Ratschlag: "Das wächst sich wieder aus."
Es wächst sich nicht aus. Luisa wurde immer ruhiger. Die mündlichen Noten schlechter. Bis die Direktorin ihre Vermutung äußerte. Bis den Eltern ein Flyer der Selbsthilfegruppe in die Hände fiel. Plötzlich hatten sie Angst um ihre Tochter. "Dass sie untergebuttert wird. Untergeht. Außenseiter wird." Philipp Ruppert erzählt schnell. "Man macht sich halt seine Gedanken. Wie es mit ihr weitergeht. Ob sie auf eine spezielle Schule muss." Er erzählt viel. Als halte er die Stille nicht aus. Als wolle er darüber hinwegtäuschen, dass auch seine Frau wenig redet.
Philipp Ruppert unterrichtet. Er ist von lauten Schülern umgeben. Da war es komisch, dass sich seine Luisa so wenig traute. Dass sie immer ihren Papa das Eis bestellen ließ. Dass sie lieber aufs Eis verzichtete, wenn sie selbst bestellen sollte. "Mein Kind hat sich hinter mir versteckt, wenn wir jemanden auf der Straße getroffen haben", erinnert sich der Ingenieur. "Das war mir peinlich." Da übernahm er die Initiative. Antwortete für sie.
Heute würde er das nicht mehr tun. Heute weiß er, wie viel Zeit sie braucht. Luisa ist seit einem Jahr in therapeutischer Behandlung. Sie hat gelernt, offener zu sein. Ihr Selbstbewusstsein aufzuschreiben. In einem grünen Ordner zu sammeln. Stolz zeigt Luisa jede Seite des Hefters. Liest teilweise vor, was darauf steht. Spricht etwas lauter. "Brötchen gekauft und bezahlt", "Am Tisch (5 Personen) laut über die Klassenfahrt erzählt", "Nach stillem Wasser gefragt und Isabelle gekauft", steht da in krakeliger Schrift. Und darüber: "Das habe ich geschafft".
"Geschafft" ist ein wichtiges Wort für Luisa. Sie tippt auf eine Strichliste. "So oft habe ich mich in der Schule gemeldet." Sie zählt nach. "22 Mal. In zwei Wochen." Luisa hat mit ihrer Therapeutin auch eine Tabelle erstellt, in der steht, wie sie sich im Haushalt beteiligt. Zimmer aufräumen, Spülmaschine ausräumen. Alles Teil eines Plans. Der Heilung.
Überbehütete Kinder
Die Heilung ist nötig. "Wird selektiver Mutismus nicht behandelt, kann das schlimme Folgen für die soziale und emotionale Entwicklung haben", sagt Alexandra Kopf vom Verein "StillLeben", "Isolation, Depression oder Ticks." Die Chancen seien umso größer, je früher die Diagnose gestellt würde. Die Ursachen vielschichtig. Ein Trennungserlebnis kann selektiven Mutismus hervorrufen, ebenso eine komplizierte Geburt, geringes Selbstvertrauen oder Migrationshintergrund. Oft sind es Grenzerfahrungen wie der Übergang vom Kindergarten zur Schule. Oft liegt es in der Familie. Oft besteht ein besonders inniges Verhältnis zwischen dem Kind und einem Elternteil. Oft ist das Kind überbehütet. Wird von allen Lasten ferngehalten. In den Mittelpunkt gerückt.
Luisa hat schon Einiges aufgeholt, ihre Sprache wiedergefunden. Sich dafür entschieden, eine Gesamtschule zu besuchen. Ohne Noten. Trotzdem kann sie sich noch nicht bei der Verkäuferin erkundigen, wo sie den Labello findet. Trotzdem schaut sie erst aufs Display, wenn das Telefon klingelt. Und nimmt nur ab, wenn sie die Nummer kennt.
Luisa klettert auf den Schoß ihrer Mutter. "Schon als Säugling war Luisa verrückt nach der Mama. Sobald die Mama da war, war ich abgeschrieben", sagt ihr Vater Philipp Ruppert. "Ich musste ihr jede Nacht eine Geschichte vorlesen", sagt Erika Ruppert, sie ist Kinderpflegerin. Einmal habe sie ihr keine vorgelesen. Da habe Luisa die ganze Nacht nicht geschlafen.
Sie drückt ihre Tochter an sich. Hält ihre Hand. So sitzen sie eine Weile. Wortlos. Im Hintergrund Luisas Fotos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers