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Archiv-Artikel

Selbstmörder aus Tradition

Die DDR hatte eine der höchsten Suizidraten der Welt. Ein Buch beleuchtet nun die Ursachen: Nicht politische Repressionen waren entscheidend für die starke Neigung zum Freitod. Vielmehr dauerten alte Moralvorstellungen und Mentalitäten fort

VON DANIEL SCHULZ

Die Selbstmordrate der DDR war eine der höchsten der Welt, das wissen viele spätestens seit der Diskussion um den Kinofilm „Das Leben der anderen“. Dass dies aber nicht hauptsächlich an der Unterdrückung durch das realsozialistische Regime lag, zeigt die erste umfassende Studie, die sich mit Suiziden in der DDR beschäftigt. Sie wird heute von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vorgestellt.

Jährlich töteten sich im Arbeiter-und-Bauern-Staat etwa 5.000 bis 6.000 Menschen. Damit übertraf die Selbstmordrate jene der Bundesrepublik um 50 Prozent, bei alten Menschen lag sie sogar zweieinhalbmal so hoch. Dies wurde zumeist mit der Unterdrückung durch die DDR-Diktatur erklärt. Doch der Leipziger Historiker Udo Grashoff führt die hohe Selbstmordrate in seiner Untersuchung „In einem Anfall von Depression“ auf religiöse Traditionen und regionale Mentalität zurück.

Schon im Kaiserreich wählten die Menschen im protestantisch geprägten Ostdeutschland häufiger den Freitod als im Westen. Um 1900 betrug das Verhältnis der Selbsttötungsraten drei zu zwei. Gerade die stärker suizidgefährdeten Alten verübten in den katholischen Milieus Deutschlands seltener Selbstmord als jene in den protestantisch oder gar atheistisch geprägten Gebieten. Ein Grund ist die stärkere Ächtung des Freitods durch den katholischen Glauben. Hinzu kommt, dass sich nicht-katholische Ehepaare häufiger scheiden lassen als andere. Menschen in stabilen Ehen sind „aber deutlich weniger suizidgefährdet als Geschiedene“, heißt es in der Studie.

Die Religion allein ist jedoch nicht der entscheidende Faktor, denn auch im stark katholisch geprägten Ungarn ist die Selbstmordrate hoch. Die Selbstmordneigung beeinflussen auch regionale „mentale Prägungen“, die für die Sozialforschung und auch für Grashoff bis heute größtenteils Rätsel bleiben. So lässt sich zwar feststellen, dass sich in Thüringen und Sachsen überdurchschnittlich viele Menschen töten – und das seit den Zeiten des Kaiserreichs. „Aber eine Erklärung für dieses Phänomen zu finden gelingt der Wissenschaft bisher nur ansatzweise“, sagt Grashoff. „Natürlich benutzt man auch ungern so vorbelastete Begriffe wie ‚Volkscharakter‘.“ Typisch für Sachsen ist beispielsweise auch, dass es im Vergleich zum restlichen Deutschland eine sehr viel niedrigere Mordrate aufweist. Daraus folgert Grashoff eine sächsische Neigung, „Aggression eher gegen sich selbst zu wenden“. Im Norden der DDR bewältigte man innere Abgründe übrigens vorzugsweise mit Alkohol.

Ganz ausschließen will Grashoff den Einfluss der Politik auf die Selbstmordrate nicht. Seine Untersuchung zeigt jedoch, dass diese Einflüsse zumeist die kleine Gruppe der Menschen betrafen, die den Mut aufbrachten, sich gegen das DDR-System aktiv zu Wehr setzten. In den Gefängnissen der Staatssicherheit war die Rate der Selbstmordversuche extrem hoch, wiewohl die meisten durch ein rigides Kontrollsystem verhindert wurden. „Für die Mehrheit der Menschen war die Repressivität des Systems nicht existenzbedrohlich“, sagt Grashoff. Im Film „Das Leben der anderen“ wird die Selbstmordrate als Beleg für eine Diktatur zitiert, die mit ihren Repressionen den Menschen den Lebensmut nimmt. „Aus wissenschaftlicher Sicht ist das falsch“, sagt Grashoff. „Da haben die wenigen mutigen Oppositionellen ihre Perspektive einfach auf alle anderen übertragen.“

Nur an zwei Punkten sei ein messbarer Einfluss der politischen Umstände auf die Häufigkeit von Selbstmorden bei der breiteren Bevölkerung zu erkennen: „1960, als die landwirtschaftlichen Flächen verstaatlicht wurden, und in den Jahren nach dem Mauerbau am 13. August 1961.“ Während die einen die nackte Angst um ihre Existenz trieb, traf das zweite Ereignis eine mobile, rebellische Generation, die plötzlich eingesperrt war.

Bis auf diese Ausnahmen findet Grashoff jedoch kaum Belege für die bisher gerne genannten Gründe für die hohe Selbstmordrate: staatliche Repression oder schlechte Versorgung. Sein Resümee: „Im Großen und Ganzen lässt sich die hohe Suizidneigung nicht durch die politische oder die ökonomische Situation der DDR erklären.“