piwik no script img

Archiv-Artikel

Seit 50 Jahren im Untergrund

AUS BIELEFELD HOLGER PAULER

50 Jahre Jazz hinterlassen ihre Spuren. Vor allem in der Nase. Es riecht leicht muffelig, nach kaltem abgestandenen Rauch. Irgendwie komisch. Frank Zappa hätte seine Freude daran gehabt. Den Bunker Ulmenwall in Bielefeld hat er allerdings nie gesehen. Der geruchsintensive Effekt ist allerdings eher ungewollt. „Die Lüftung ist permanent an, mehr geht nicht“, sagt Wolfgang Groß, Vorsitzender des Fördervereins. Kein Wunder: Der unterirdische Sanitätsbunker aus dem Jahr 1938 hat keine Fenster und auch die Eingangstür bleibt schon allein aus lärmtechnischen Gründen verschlossen.

„Ich liebe diesen Klub“, sagt der Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli. Am vergangenen Samstag machte er mit seinem Zoom-Trio, unterstützt vom Arte-Quartett aus Basel, in Bielefeld Station. Crash Cruise nennt sich das Projekt. Der Name ist Programm. Für Band und Ambiente. „Der Bunker ist einmalig“, sagt Niggli. Weimar am Abend zuvor und das domicil in Dortmund tags drauf – auch cool. Aber der Bunker Ulmenwall? Niggli grinst, lacht. Er fühlt sich spürbar wohl.

Wer den Eingang findet, kann da nur zustimmen: Kreuzstraße Nummer Null in 33602 Bielefeld. Wo das moderne Navigationssystem versagt, müssen die Instinkte weiterhelfen. Bunker, Jazz, Avantgarde. Glanz und Glamour? Vergiss es! Die Bielefelder City ist eh weit entfernt davon. Ostwestfalen, dahinter kommt nur noch Niedersachsen.

Die Anfänge liegen mehr als 50 Jahre zurück. „Falken“, Pfadfinder oder der CVJM belebten das NS-Relikt in der Nachkriegszeit. Der Bielefelder Puppenspieler Helmut Selje arbeitete im unterirdischen Gewölbe, die Intelligenz traf sich, um Politik und Kultur zu diskutieren und um sich gegenseitig die neuesten Schallplatten vorzuspielen.

Den ersten Livejazz gab es im Jahr 1956. Älter ist kein Jazzclub in NRW. Bundesweit streiten sich Frankfurt und Nürnberg um die Vorherrschaft. „Leider ist über die Anfangsjahre nicht mehr all zu viel bekannt“, sagt Kornelia Vossebein, Geschäftsführerin des Clubs. Keine Namen, keine Zahlen, nichts. Das Jugendamt veranstaltete die beliebten „Jazzbandbälle“. Es durfte getanzt werden zu Dixieland und Swing. Die Bielefelder Jazzszene wurde heimisch und auch der Nachwuchs konnte proben. Ein zweiter Notausgang verhinderte Ende der 1950er Jahre die Schließung.

Ein kleines Schild über dem Eingang weist den Weg. Ein roter Kreis, halbiert von dem Schriftzug „Bunker Ulmenwall“ – nachempfunden der „Tube“, der Londoner U-Bahn. „Going Underground“. Passt irgendwie. Aber: Finden wirklich alle Interessierte den Weg hierhin?

„Die Beschwerden halten sich in Grenzen“, sagt Wolfgang Groß. Wer den Laden finden wolle, schaffe das auch. Es habe auch schon Musiker gegeben, die an Bielefeld und am Bunker einfach vorbeigefahren sind. „Spätestens in Hannover haben sie dann gemerkt, dass sie falsch sind“, lacht Groß. Bielefeld? Gibt es nicht.

Gut, dass sich zumindest die Schweizer Delegation auskennt. „Ich weiß gar nicht, wie oft ich hier war“, sagt Lucas Niggli. „Aber es ist immer wieder ein Erlebnis.“ Für Musiker und Zuschauer. Die Gastronomie verschachtelt sich auf wenige Quadratmeter. Die Theke ist zu klein für das Septett. Fünf Steh- und sechs Sitztische – den Konzertraum im Blick. Die Bühne ist im Zentrum des wenige Meter breiten und 20 Meter langen Saals aufgebaut. In der Mitte spielt die Musik, links und rechts davon sitzen die Zuhörer. Permanenter Blickkontakt, die Spiegel an den Wänden und Säulen verdichten die Atmosphäre, die Interaktion ist programmiert und erwünscht. „The vibe was always brought by the kind of audience I like – the feeling that anything could happen“, sagte der New Yorker Gitarrist Marc Ribot einmal.

Den Durchbruch über die Bielefelder Stadtgrenzen hinaus erlebte der Klub in den 1970er Jahren. Die Puppenspieler waren ausgezogen, internationale Musiker eroberten die Bühne: Freejazz, frei improvisierte Musik aber auch Fusion gehörten zum Repertoire. „Viele Musiker spielten hier kurz vor dem totalen Durchbruch“, sagt Vossebein. Solang sie noch bezahlbar waren. Der US-amerikanische Gitarrist John Scofield gehörte ebenso dazu wie Barbara Thompson. Aber auch die schon damals etablierten Stars der Jazzwelt wie Chet Baker, Dexter Gordon, Betty Carter oder Albert Mangelsdorff, die Protagonisten der europäischen Avantgarde um Peter Brötzmann, Willem Breuker, Tomasz Stanko und Evan Parker oder lokale Größen wie der Gitarrist Volker Kriegel spielten im Bunker. Dazu Folk und Kabarett mit Franz Josef Degenhardt und Hanns Dieter Hüsch. Und heute?

In der zweiten Hälfte des knapp zweistündigen Crash Cruise-Sets wird es magisch. Das Septett schlängelt sich durch die Kompositionen des Schweizer Schlagzeugers Lucas Niggli, die Musiker lösen sich von der Notation, erzeugen eine beinahe psychedelisch-sphärische Atmosphäre. Die Zuschauer hören in den leiseren Passagen konzentriert zu, um kurz darauf mit zu grooven. Die Lautstärke steigt und zumindest die älteren Semester bekommen hörbare Probleme.

Knapp 50 Leute sind an diesem Samstag gekommen. Studenten und Rentner. Dreimal so viele passen hinein. „Das ist schon okay“, sagt Kornelia Vossebein. 20 oder 30 mehr wären schön gewesen, aber der Dezember sei halt ein schwieriger Monat. Weihnachtsfeiern und das Geld sitzt wohl auch nicht mehr so locker. „Wir können uns auf unseren Stamm verlassen“, sagt Wolfgang Groß. Regionale Konkurrenz gibt es nicht. Die Gäste kommen sogar aus Osnabrück oder Bremen.

Diejenigen, die am Samstag da sind, wollen die Musiker nicht von der Bühne lassen. Nach einer spaßigen Einlage sind dann alle zufrieden: Band, Besucher und Veranstalter. Lucas Niggli klatscht Beifall. Seinen Musikerkollegen und dem Publikum. Bei Bier, Wein und Zigaretten geht der Abend zu ende. Es ist kurz vor Eins. Zur Feier des halben Jahrhunderts haben sich die Verantwortlichen des Bunkers ein feines Programm ausgesucht: Peter Brötzmann war da – im freien Trio mit seinen Saxofonfreunden Mats Gustafsson und Ken Vandermark. Das japanische Hardcore-Quartett um Pianist Satoko Fuji spielte im Herbst 2006 ebenso in Bielefeld wie das Globe Unity Orchestra. Das vermutlich bekannteste europäische FreeJazz Orchestra der vergangenen Jahrzehnte musste wegen des großen Andrangs ins Theater am Alten Markt ausweichen. „Ein Ereignis“, sagt Wolfgang Groß. Das Jugend-Musik-Projekt „Get Grooved!“ gab es auch: ein Workshop mit 20 Bielefelder Kids.

Dauergast Archie Shepp hinterließ bei seinem vorletzten Gastspiel einen besonderen Eindruck. Einen Tag vor seinem Auftritt in Bielefeld hatte der Tenorsaxofonist bereits seinen Auftritt in Bremen gecancelt. Ohne Vorwarnung. „Wir waren auf alles gefasst“, sagt Groß. Irgendwann trudelte Archie im Bunker ein und legte einen wunderbaren Auftritt hin. Alles okay. Die Sachen abgebaut und ab ins Hotel. Irgendwann um ein Uhr nachts klingelte das Telefon. „Wolfgang, I need something to eat.“ Groß versuchte den hungrigen Künstler davon abzubringen. Vergebens. Der Koch musste geweckt werden, zauberte ein Menu auf den Teller. Der Meister war zufrieden und satt. Am nächsten Tag verpasste er die Abfahrt nach Frankfurt. Seine Band war schon da und musste ohne ihn auftreten. Da blieb Archie Shepp eben und ließ sich für ein weiteres Konzert in Bielefeld eine Band aus lokalen Musikern zusammenstellen. Kein Problem.

Finanziell ist die Lage angespannt. Seit zehn Jahren leitet ein gemeinnütziger Verein den Konzertbetrieb. Der Grund waren Pläne der Stadt. Der „Kostenpunkt Bunker Ulmenwall muss überdacht werden“, hieß es im Jahr 1996 im wunderschönen Beamtendeutsch. Die Schließung stand bevor. „Jetzt erst recht“, hieß es fortan. 85.000 Euro fließen pro Jahr in den Bunker. Nach Abzug von Personal-, Raum- und Betriebskosten bleiben 18.000 für das Programm. 1.500 Euro im Monat. Und selbst die stehen auf der Kippe. „Es ist schwierig“, sagt Wolfgang Groß. Er betreibt seinen Job ehrenamtlich. Ein stetiger Kampf um das Konzept Jugendkulturarbeit und Konzerte. „Wir bieten zum Beispiel auch dem Nachwuchs Möglichkeiten, tagsüber zu proben“, sagt Groß. Das Engagement des Bunkers für den Nachwuchs werde oft unterschätzt. Auch in der öffentlichen Darstellung. „Es ist aber enorm wichtig“, so Groß – und Voraussetzung für weitere Förderung.

Dennoch bleibt der Konzertbetrieb das wichtigste Standbein. Um hier nicht unterzugehen, hat sich der Bunker Ulmenwall mit dem Kölner Stadtgarten und dem domicil Dortmund vor drei Jahren zur Gemeinschaft unabhängiger Spielstätten (GuS) zusammen geschlossen. „Wir leisten Netzwerkarbeit“, sagt Kornelia Vossebein. Gemeinsame Projekte und Konzerte stehen auf dem Programm. Kontakte werden intensiviert, Kosten gesenkt. Auch der WDR unterstützt die GuS. Damit der Bunker noch lange komisch riecht.