: Sehnsucht nach Prag
Unter diesem Motto steht dieses Jahr das Schleswig-Holstein-Musikfestival, das heute beginnt. Dem „Länderschwerpunkt Tschechien“ wendet man sich zwar erst Ende Juli zu, doch die taz fragt schon jetzt: Was verbindet Schleswig-Holstein mit Prag?
von Daniel Wiese
„Tragen wir nicht alle die Sehnsucht nach Prag, das einst das Zentrum der europäischen Politik bildete, in uns?“ Diese bange Frage steht im Vorwort zu dem aufwendig gestalteten Programmbuch des Schleswig-Holstein-Musikfestivals, und gestellt wird sie von Rolf Beck, dem Intendanten des Festivals höchstselbst. Beck weiß auch gleich die Antwort: „Prag steht für eine Utopie, für eine Vorstellung von einem geeinten Europa. Hier lebten einst verschiedene Kulturen unter einem Dach“, weiß Beck.
Nämlich die tschechische, die jüdische, die deutsche und noch ein paar andere. Wobei allerdings zwischendurch auch mal die Nazis da waren, weshalb die Situation sich jetzt ein bisschen anders darstellt. Trotzdem hält sich beharrlich das Bild von Prag als der „Goldenen Stadt“, und ja, Prag ist immer noch schön mit seinen tollen Bürgerhäusern, den alten Kirchen und dem prächtigen Burgberg über der Moldau, wo der tschechische Präsident residiert. Heide Simonis, die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, muss sich dagegen mit der ehemaligen Marineakademie in Kiel begnügen. Ein hübscher Backsteinbau, gewiss, aber mit der Prager Burg nun doch nicht zu vergleichen.
Die „Sehnsucht nach Prag“, so der Obertitel des diesjährigen Muskfestivals, ist vom norddeutschen Flachland aus betrachtet verständlich. Auch dort treffen zwar mit den Nordfriesen und den Dänen verschiedene Völker aufeinander, doch hat diese Begegnung kulturhistorisch keine große Bedeutsamkeit erlangt. Schleswig-Holstein hat dafür andere Dinge zu bieten, es gibt Schafe und Deiche und Halligen und gleich zwei Meere, und der Himmel hängt tiefer als anderswo. Das schlägt sich auch in der Mentalität der Bevölkerung nieder, die freiwillig nicht gern redet, jedenfalls nicht gegenüber Fremden.
Die Prager dagegen gelten als lustiges Völkchen und auch als ein aufmüpfiges. Selbst den Stalinisten haben sie es gezeigt, und auch nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings war die Stimmung in der Stadt immer eine besondere. Es gab die eine, die offizielle Welt des Sozialismus, und daneben und darunter eine Parallelwelt, die selbst Besucher aus dem Ausland mitbekamen, wenn sie nur zur richtigen Zeit in den richtigen Kneipen saßen.
Mittlerweile freilich hat Prag seine Seele dem Tourismus verkauft, und die Gewitztheit seiner Einwohner tritt weniger als Widerstand gegen das System denn als Geschäftstüchtigkeit in Erscheinung, spürbar an den Preisen in den Kaffeehäusern. Auf solche Ideen kommt der friesische, mit der Scholle oder auch den Dünen verwurzelte Dickschädel freilich nicht. Es sei denn, er betreibt ein Hotel am Timmendorfer Strand. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.