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Sehnsucht Nirgends zeigt sich die Milchstraße selbstverständlicher, nirgends ist die Stille schöner: Die Schriftstellerin Kerstin Preiwuß wuchs in Mecklenburg auf. Manchmal träumt sie sich zurückKomisch, so viel Luft zum Atmen

Von Kerstin Preiwuss

Wohin ich in Wahrheit gehöre, hat einmal Uwe Johnson als Auskunft über sich erteilt, und es kam einem Selbstzeugnis gleich: An welchen Flüssen sich sein Leben auch immer noch abgespielt hat, es sind die umwaldeten Seen von Plau bis Templin, die er in der Erinnerung sein Eigen nennt. Ich weiß genau, was Johnson meint, ich kenne es und auch die Sehnsucht danach, mit der er sich an die Spitze der Lübecker Bucht stellte, um auf das Land zu schauen, das er nicht mal mehr besuchen durfte. Seit mehr als fünfzehn Jahren lebe ich schon in Leipzig, aber ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich über Rückkehrmöglichkeiten nachdenke, vor allem im Herbst. Dann durchforste ich einschlägige Seiten im Netz nach einem Häuschen, eine einfache Kate, nur für den Sommer, das geht bestimmt, in Mecklenburg lebt schließlich in jedem Dorf ein Künstler. Ich stelle mir vor, wie ich das Haus betrete, das natürlich an einem See gelegen ist, um ab dann von der Bildfläche zu verschwinden. Die ersten paar Tage bin ich so erschöpft, dass ich nur schlafen möchte, ich sacke in mich zusammen, das Nervensystem muss sich erst runterfahren. Danach, weiß ich, setzt Erholung ein. Für einen Abend scheint es möglich, mit einem Fuß in Mecklenburg zu sein.

Mit 1,6 Millionen Einwohnern ist M/V das am dünnsten besiedelte Bundesland, lese ich auf Wikipedia. In meiner Erinnerung waren es noch 1,7. Ich suche unter Kultur nach Literatur als Rubrik, aber es gibt sie nicht. Theater ja, Film und Musik, das Land ist stolz auf seine Talente und fördert sie, aber keinen Eintrag über Literatur. Wenn die Verlagsvertreter nach Mecklenburg fahren, nehmen Sie andere Bücher mit als für Berlin. Angelbücher verkaufen sich am besten.

Sofort nach dem Ende der Schulzeit bin ich gegangen. Ich wollte so weit weg wie möglich, am besten in den südwestlichsten Zipfel von Deutschland. Es wurde dann Leipzig, auch wegen der Lebenskosten. Leipzig hat mich euphorisiert, weil die Leute von sich aus mit mir sprachen. Bevor ich ging, habe ich die Tage gezählt. Daheim war es zu eng, ich bin an meinen Bedürfnissen fast erstickt. Komisch, so viel Luft zum Atmen, aber nicht die, die ich brauchte. Ich komme aus Rostock, habe lange am Strand als Rettungsschwimmerin gearbeitet. Ich war Einheimische, die anderen Urlauber. Urlauber waren leicht zu erkennen, sie mussten ins Wasser, ob der Sommer mitspielte oder nicht, weil ihnen nur zwei Wochen dafür zur Verfügung standen. Wir dagegen betrieben Körperkult und warteten auf die Herbststürme.

Die Seenplatte ist das Land meiner Kindheit. Es war ein Paradies, auch wenn es im Nachhinein etwas archaisch gewesen sein mag. Noch mehr Langsamkeit als an der geschäftigen Küste, die Milchstraße so selbstverständlich am Himmel wie sonst nirgendwo, eine Selbstvergessenheit und Stille, die ich seitdem nie wieder gefunden habe. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, dass eine Stadt dort beginnt, wo die andere aufhört, ich bin das nicht gewohnt, meine mentale Landkarte ist anders gestrickt. Die mit der Schwedensehnsucht werden wissen, was ich meine.

Mecklenburg, das ist eine Landschaft mit Leuten. Die Landschaft kommt immer zuerst, ob aus Urlauber-, Einheimischer- oder Ehemaligen-Perspektive, die Landschaft kommt vor den Leuten. Darin unterscheidet Mecklenburg sich nicht von anderen ländlichen Regionen. Landflucht ist ein alter Hut, aber wen interessiert das schon in Sachsen-Anhalt oder Nordrhein-Westfalen. Wird einem Mecklenburger die Frage nach der Rückkehr vielleicht eher gestellt? Sie scheint zumindest vorstellbarer, das Land hat Pfunde, mit denen es wuchern kann. Urlaubsziel Nummer eins, beliebter als Bayern, ideal für Familien oder romantische Spaziergänge auch im Herbst. Altenheime und Rehakliniken haben hier eine große Zukunft. Aber die Leute?

Als Mecklenburger ist man das Gefühl, keine Rolle zu spielen, gewohnt. Das war schon immer so. Nach Rostock fährt kein ICE, bis Berlin nimmt man den Regionalexpress. Auf manchen der stillgelegten Strecken kann man auch Draisine fahren. Ohne Auto ist man hier verloren. In Mecklenburg geht die Welt fünfzig Jahre später unter. Der Satz stammt angeblich von Bismarck. Man könnte es auch anders sagen: Selbst wenn in Mecklenburg alles den Bach runterginge, würden es die anderen erst fünfzig Jahre später bemerken. Wir Flüchtlinge, sagte meine Großmutter einmal, waren bitter nötig, auf den verstreuten Gutshöfen heirateten Cousin und Cousine seit jeher, so blieb das Geld beim Geld und die Kinder wurden blind und taub geboren.

Mecklenburg hat deutschlandweit die meisten Alkoholtoten. Das muss man verstehen, kein Weinland, stattdessen Bier und Schnaps, wenn die Arbeit ausbleibt. Eine Leere, die einem das Gefühl gibt, nicht vonnöten zu sein. Darüber reden? Wozu denn? Wenn das Sprechen schwerfällt, wird der Mund eben zum Trinken benutzt. Eine Welt in Randlage, mit Problemen, für die großstädtische Mi­lieus sich nicht interessieren. Mit einem Küstenstreifen, den bald jeder kennt, und einem Hinterland, das in der Versenkung verschwindet. Ein Nationalpark mit national befreiten Zonen und einer Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Mit jungen Leuten, die gehen, mit denen, die bleiben, und denen, die sich auf der Strecke geblieben fühlen. Mit vielen Holzkreuzen entlang der Alleen. Mit einer Landschaft, die sich wie eine Decke über alles legt.

KerstinPreiwuß, Jahrgang 1980, ist Schrift-stellerin und Lyrikerin. Sie lebt in Leipzig und lehrt dort am Deutschen Literaturinstitut, wo sie auch studiert hat. Ihr nächster Roman „Nach Onkalo“ spielt wieder in Mecklenburg und erscheint im Frühjahr 2017 im Berlin Verlag

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