Seefahrtexperte über die "Arctic Sea": "Ein lukratives Geschäft"
Ein Frachter verschwindet. Die mysteriösen Umstände provozieren alle Arten von Spekulationen. "Ganz normale Kriminelle", sagt Seefahrtexperte Peter Irminger.
taz: Herr Irminger, die "Arctic Sea" wurde vorgestern vor den Kapverdischen Inseln gefunden. Das finnische Schiff mit russischer Besatzung fuhr unter maltesischer Flagge. Es beteiligten sich mehr als 20 Länder, Europol und Interpol an der Suche. Ist das die Regel?
Peter Irminger: Es ist nicht üblich, dass sich so viele internationale Gruppierungen darum kümmern, vor allem keine Geheimdienste. Ungewöhnlich ist auch, dass es gleich so ein hohes internationales Interesse gab.
Ist das der erste Fall von Piraterie in Europa?
Der wochenlang verschollene Frachter "Arctic Sea" befand sich in der Gewalt von Piraten. Acht mutmaßliche Entführer des unter maltesischer Flagge fahrenden 4.000-Tonnen-Schiffs seien verhaftet worden, sagte der russische Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow. Die Verdächtigen kämen aus Russland, Lettland und Estland und würden an Bord eines russischen Marineschiffs befragt. Die unter mysteriösen Umständen verschwundene "Arctic Sea" und ihre 15-köpfige russische Besatzung waren am Montag 300 Seemeilen vor den Kapverden im Atlantik entdeckt worden.
Laut Serdjukow entführten die vier Esten, zwei Letten und zwei Russen das Schiff am 24. Juli, einen Tag nach seinem Auslaufen aus einem finnischen Hafen. Unter dem Vorwand, ihr eigenes Schiff habe einen Maschinenschaden, seien sie an Bord gekommen und hätten die "Arctic Sea" in der Ostsee in schwedischem Hoheitsgewässer geentert. Dann hätten sie "die Besatzung unter der Androhung von Waffengewalt gezwungen, ihren Anweisungen zu folgen".
Moskau hatte mit Kriegsschiffen und U-Booten nach der "Arctic Sea" suchen lassen. Nach einiger Zeit war spekuliert worden, ob das Schiff vielleicht eine geheime Ladung transportiert. rtr/afp
Es wäre der erste mir bekannte Fall in der Neuzeit. Bisher galten die europäischen Gewässer als absolut piratenfrei. Ob das ein Einzelfall ist oder der Beginn einer Serie wie in Somalia, das wird man sehen. Piraterie hat sich eben als ein äußerst lukratives Geschäft herausgestellt.
Woher wissen Piraten über Schiffe Bescheid?
Man kann ein Schiff übers Internet ohne Probleme lokalisieren.
Was passiert mit den entführten Schiffen?
Früher hat man Ladung und Schiff verkauft. In jüngster Zeit hat man gemerkt, dass Lösegelderpressung einfacher ist.
Die "Arctic Sea" transportierte Holz im Wert von über 1 Million Euro. Sind Geiseln gewinnbringender?
Das ist der neue Trend. Es gab Fälle, die nie aufgeklärt wurden. Das könnte bei der "Arctic Sea" auch der Fall sein.
Wird im Normallfall das Lösegeld bezahlt? Und kommt die Besatzung in der Regel frei?
Bei allen Fällen, die mir aus Somalia bekannt sind, wurde Lösegeld bezahlt und die Besatzung freigelassen. In den wenigsten Fällen wurden Menschen verletzt und getötet. Es gab aber einen Fall, da wurde nicht bezahlt und die Piraten haben das Schiff niedergebrannt. Selbst ein Flugzeug zu befreien ist einfacher.
Wieso dauert es immer so lange, bis die Geiseln freikommen?
Die somalischen Piraten verfügen über eine gewisse Basarmentalität, das heißt, um ein gutes Geschäft abzuschließen, wird hart verhandelt. Die Gruppierungen untereinander sind zudem zerstritten - es werden verschiedene Aussagen getroffen. Man weiß häufig nicht, was verbindlich ist. Ein Problem ist auch, dass der Reeder eine vernünftige Summe aushandeln muss, um das gegenüber dem Ladungsbeteiligten und Versicherern vertreten zu können.
Können Schiffe sich schützen? Mit Sicherheitssystemen?
Davon rate ich ganz dringend ab. Je mehr sich Schiffe schützen, desto mehr rüsten die Piraten auf. Ein Schiff ist nun mal kein Kriegsschiff. Ich bin der Ansicht, dass Piraterie in Somalia nicht einfach so behoben werden kann. Die einzige Chance ist ein Festigen der Regierung in den betroffenen Ländern.
Wie bereiten Sie Studenten auf die Gefahren vor?
Die beste Waffe, die man hat, ist die Geschwindigkeit des Schiffes. Wenn die Piraten schon an Bord sind, ist die vernünftigste Variante die Zitadellentaktik. Es gibt einen sicheren Raum an Bord mit besonderen Verschlüssen und Kommunikationsmitteln - die Besatzung kann sich zurückziehen und Hilfe herbeirufen. Ansonsten ist die psychologische Vorbereitung wichtig - eine Geiselnahme an Bord ist etwas anderes als in einer Bank. Auf See dauert es Wochen und Monate. Darauf muss man sich einstellen. Trotz der Gefahren ist das Studium an unserer Universität so beliebt wie noch nie.
Man sprach von einer Beteiligung der Mafia und von Waffen - und Drogenhandel. Warum wurde in den Medien so leidenschaftlich spekuliert?
In Europa ist eben bisher noch kein Schiff verschwunden. Viele Nationen und deren Spezialeinheiten interessierten sich für diesen Fall. Das ist durchaus alles sehr ungewöhnlich. Es ist kein normaler Piratenüberfall - mysteriöse Umstände sorgen eben für Spekulationen.
Das Meer ist ein unüberschaubarer Raum, der sich nicht völlig kontrollieren lässt. Dazu mischen sich Kindheitsfantasien von Seeräubern. Entsteht so ein Mythos?
Das denke ich nicht. Das sind ganz normale Kriminelle. Die ersten Überfälle vielleicht, aber das international organisierte Geschäft hat schon fast mafiöse Strukturen angenommen.
Peter Irminger ist Professor für Schifffahrtsrecht und Navigation an der Hochschule Bremen. Der 43-Jährige bildet Kapitäne aus und fuhr früher selbst weltweit auf verschiedenen Schiffen zur See.
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