Sci-Fi-Kurzgeschichte aus Nigeria: Biodefreies Neu-Biafra-Sperma
Ein Bordell aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Nigeria: Die Frauen legen sich Häute an, die Männer tragen Penis-Implantate. Der Sex ist brutal.
Sie fragte sich, warum es immer noch „Rotlichtbezirk“ hieß. Die Flure waren in einem sterilen Grün gehalten, die Fußböden wurden regelmäßig von künstlichen Kreaturen mit einem komplizierten Saugsystem im Untergehäuse geschrubbt. Ganzkörperbad war selten, Schmutz jeder Art wurde nicht toleriert.
Die Lichter waren neonweiß und verwuschen unbehandelte Haut in ein blasses Grau, behandelte in Milchweiß. Die Betten – an die Betten wollte sie nicht denken. Ihre Schulter juckte und sie widerstand dem Drang, sie zu berühren. Man hatte ihr die Wahl zwischen einem Hautimplantat, einem Tattoo oder einem billigen Plug and Play gelassen.
Sie hatte das Plug and Play ausgesucht, ohne zu wissen, was das war. Ihr aktuelles Implantat schmerzte gnadenlos, es heilte nie richtig, weil seine kleinen Klauen sich jeden Morgen neu festsetzten, seine Plexiglasteile, wie ein winziger Wächter über ihrem Schlüsselbein.
„Herkommen, jemand!“
Edwin Okolo, 29, lebt in Lagos, Nigeria. 2016 war er für den Short Story Day Africa Prize nominiert.
Der Ruf kam von der Oberschwester am Ende des Ganges. Der gesamte Bezirk war vollautomatisiert, aber sie behielten die Oberschwestern, weil das Management schnell gemerkt hatte, dass die Bedrohung durch sofortige Strafe von Menschenhand eine überzeugendere Abschreckung darstellte als ausende Überwachungskameras.
„Hört ihr nicht zu?“
Sie hatte hier lange genug gelebt, um zu wissen, dass das für die Oberschwester normal war. Trotz ihres bunten Wickeltuchs und ihres unrasierten Kinns war ihre Oberschwester eigentlich die netteste im Bezirk. Sie hatte Geschichten gehört, eine vor allem über eine Oberschwester, die die Freier durch Aktivieren der Implantate ankündigte. Allein daran zu denken, ließ sie erschaudern.
Die Zunge gespalten
Ein Zimmer nach dem anderen erwachte widerwillig zum Leben, jenseits der milchigen Türen offenbarten sich die Inhalte wie ein Ladengeschäft, das für den Tag öffnet. Sie stand da und sah in das gegenüberliegende Zimmer, auf das kurzhaarige, lilaäugige Wesen, das ihren Anblick erwartete. Ehemals braune Haut war jetzt grün und fleckig, die Zunge gespalten. Es wetzte seine Zunge, Lüsternheit umgab seine Augen. Sie gab sich unbeeindruckt und suchte stattdessen das Zimmer nach Neuem ab.
Ein Paar Plateauschuhe saß pflichtgemäß am Bett, die Farbe unvorteilhaft für den neuen Hautton, aber dennoch neu. Die gleiche alte Leier, kreuzweise vor dem Bett und neben der Spiegelwand – damit es beim Stolzieren mit dem katzenartigen Gang, den ihm die Verbreiterung seiner Hüften über jedes Menschenmaß hinaus gab – den hinschauenden Freiern zuschauen konnte.
Das Wesen lockte nur die härtesten Freier an
Der seltene Purist schaute hin, die meisten masturbierten. In dieser Zeit lockte das Wesen nur die härtesten Freier an, und die Arbeit war zwar selten, aber gut bezahlt; genug jedenfalls für den Unterhalt seiner sehr komplizierten Modifikationen. Es wirbelte einmal herum, sodass man einen Blick auf seine andere Neuerung werfen konnte: ein wedelnder Schwanz.
Die Hände des Wesens bewegten sich im Gleichschritt. Sie konnten noch sprechen, aber während der Arbeitszeit waren die Zimmer schallgedämpft. Also Gebärdensprache.
„Wie findest du’s?“
Sie zögerte, gab dann eine Gebärde zurück. „Ich dachte, du wolltest eine Pythonschlange sein.“
Es schüttelte den Kopf. „Sie sagten, wir würden unsere Gliedmaßen und Kehlen verlieren.“
Sie schluckte. „Was ist mit dem Geld fürs Modifizieren.“
Das Gesicht trübte ein. „Auf dem Treuhandkonto. Werden den Rest überweisen, wenn wir es beschließen.“
Drei Seiten über den Görlitzer Park lesen Sie im Berlin-Teil in der Wochenend-Ausgabe der taz. Im Abo erhältlich - oder an Ihrem Kiosk.
Die Luft veränderte sich, eine mächtige Parfumwelle stob den Flur entlang und ließ jeden wissen, dass die Türen geöffnet waren. Das Wesen blies ihr einen Kuss, setzte sich etwas beschwerlich hin und begann seine neuen Schuhe anzuziehen. Sie sah in ihr eigenes Zimmer, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, und ging zur durchsichtigen Schiebetür, um zu warten.
Schritte.
Die Freier kamen oft mit Desinfektionstüten über ihren Schuhen. Jeder einzelne, der hereinkam, war wichtig. Die meisten Frauen auf ihrem Flur waren entweder modifiziert oder steckten mitten in irgendeiner chirurgischen Adaption.
Freier, die Erreger aus der Wirklichkeit einschleppten, würden eine Infektion hervorrufen und Modifizierungen scheitern lassen. Sie strich ihr Haar glatt und hasste sich sofort selbst dafür, vor allem weil sie wusste, dass das Wesen zuschaute. Bis zum Abend würde es jeder gehört haben und man würde sie wochenlang für ihre Eitelkeit hänseln. Einstudierte Gleichgültigkeit war der Schlüssel zum Überleben hier.
Die Farben der Vereinten Nationen
Sie setzte sich gerade und lauschte, wie die Schritte des Freiers sich zwischen den Zimmern verlangsamten. Er war wählerisch, die meisten nahmen die erstbeste Person. Er wurde sichtbar, der Freier, er stieg in den Raum zwischen ihr und den Zimmern des Wesens. Er war sowohl mehr als auch weniger imposant, als sie erwartet hatte. Größer als der neue Durchschnitt, aber ohne Ausstrahlung. Nichts von diesen Post-Neu-Biafra-Steroidmuskeln. Entweder Diplomat oder Technokrat. Aber er trug auch Uniform, die Farben der Vereinten Nationen, kein Länderabzeichen, wahrscheinlich ein Söldner, der aufgestiegen war.
Kein Wunder, dass der gesamte Flur verstummt war. Leute seiner Art ließen sich normalerweise beliefern, es war unter ihrer Würde, in den Bezirk zu kommen. Er ließ einen kurzen Blick auf das Wesen fallen, dann wandte er sich ihr zu. Sie bedeckte ihren Mund mit dem Handrücken und neigte sich leicht.
Er strahlte.
Ihr Herz klopfte. Nur Neu-Biafra-erzogene Männer wussten, welches Ritual ihre Verneigung bedeutete.
Auf seine Handbewegung hin öffnete sich die Tür und er kam hinein. Sie sank auf die Knie und kreuzte die nach oben geöffneten Hände in ihrem Schoß.
„Obi’m (Mein Herzliebster)“, sagte sie leise.
Er beugte sich hinein und hielt inne, bevor er sie berührte.
„Ich hatte gehört, dass jemand hier war, die in der alten Art erzogen war, aber ich glaubte es nicht. Ich musste herkommen, sehen.“
Ganz nah, konnte sie ihm nicht ausweichen. Seine Pupillen waren einfach zwei schwarze Bälle, schwimmend im Weiß seiner Augen. Eine Sehmodifizierung, vermutete sie, die sich unmerklich anpasste, als sie ihre Körperteile absuchte und sich ihr Gesicht einprägte. Auf ihrem Flur waren fast alle auf Modifizierungen abonniert, und nach Feierabend war das das einzige Gesprächsthema. Sie musste also fast vorsichtig sein, die Modifizierungen nahmen alles permanent auf, er würde nichts verpassen, was sie sagte oder tat.
„Was will Obi’m von mir?“ sagte sie.
Der Mann lächelte erneut, noch breiter diesmal, und setzte sich auf das Bett.
„Nimm deine Haut ab.“
Sie zögerte, überrascht, aber nicht überrascht, dass er es durchschauen konnte. Die Oberschwester hatte ihr versichert, dass das das neueste Haut-Update war. „Unmöglich, das zu unterscheiden“, hatte sie geschworen.
Wie Körpferfarbe abschrubben
Sie zog innerlich eine Grimasse und griff nach dem Verdünner. Haut entfernen war ein wenig wie Körperfarbe abschrubben. Der Verdünner schwächte den elektromagnetischen Puls, der die Haut an die schwache negative Ladung des Körpers befestigte, und ließ das Nanoplastik von ihrem Körper herunterfließen, in einen Haufen lebender Pampe. Er hob eine Hand und gab ein Zeichen, dass sie aufhören sollte.
„Gut. Sehr gut. Komm.“
Sie kroch zwischen seine Beine und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Er warf seinen Kopf nach hinten, als sie ihn schlaff in ihrer Hand hochhob. Er beobachtete sie, mehr als amüsiert. Sie klopfte einmal darauf und runzelte die Stirn, als nichts passierte.
„Keine Implantate“, murmelte er. „Du musst es aufwecken.“
Hinter ihr hörte sie das Wesen kichern.
Sie überschätzte den Umfang und würgte, als er mit dem ersten Stoß ihren Gaumen erreichte. Sie hatte Brechreiz, aber nichts im Magen, also kam nichts hoch. Er schob sie zurück und lachte.
„Nimm lieber deine Hände. Sachte.“
Sie kniete und umschloss ihn mit beiden Händen. Es dauerte nicht lange, dass er bereit für sie war, Haut und alles. Sie bewegte sich zum Bett und breitete sich für das Besteigen aus. Für seine Größe war es einfacher, als sie zu hoffen gewagt hatte.
Junge oder Lady-Junge
Die meisten Freier, die zu ihrem Flur kamen, hatten Billigimplantate, die sie einfach anschwellen ließen, ohne die Geschmeidigkeit eines natürlichen Penis. Man krümmte sich oder trug Verletzungen davon. Er schlängelte tief in sie hinein und gegen ihren Willen stöhnte sie tief auf. Er erstarrte und blickte sie ganz neu an.
„Was bist du? Junge oder Lady-Junge?“
Sie wurde rot. „Ich bin ein Mädchen.“
„Ein richtiges?“
„Sozusagen.“
„Sozusagen? Ich dachte, dass sogar Teilmädchen für diese Arbeit zu schade wären?“
Sie wurde noch röter. „Ich bin Intersex. Vagina ist echt, aber alles andere funktioniert nicht richtig.“
Sie wusste nicht, was peinlicher war: dass sie dieses Gespräch führten, während er in ihr drin war, oder dass es ihm etwas ausmachte, was für eine Art Mädchen sie war. Freiern war das nur wichtig, wenn sie besondere Fetische hatte, sonst war es egal. Die Häute hatten so realitätsgetreue Vaginas, sie wurden sogar feucht beim Berühren.
Augen wie Vollmonde
„Es gibt jetzt Gebärmütter“, sagte er, abwesend. Er hatte wieder angefangen, aber langsam, sodass er ihr Gesicht beobachten konnte. „Warum hast du nicht einfach danach gefragt?“ Sie sagte nichts, sie zog nur eine Hautfalte zurück. Der Bauch war von Narben übersät, von alten Einstichen. Löblicherweise schrak er nicht zurück, obwohl seine Augen groß wurden wie Vollmonde.
Sie lächelte schwach. „Mein Körper will keine Babys.“
„Gut“, sagte er, und sein Lächeln wurde böse.
Seine gerippten Unterarme erschienen unvermittelt, aus dem Nichts, er nahm ihre Hände und hielt sie über ihrem Kopf fest. Seine anderen Hände umfassten ihren Hals und er drückte zu, wie bei einem Schraubstock. Sie schaffte es, einmal „Stop!“ zu schreien, bevor ihren Lungen die Luft abgeschnürt wurde.
Sie zappelte unwillkürlich, obwohl sie wusste, dass sie damit bloß die verbleibende Luft in ihren Lungen verbrauchte. Obwohl ihr dies vertraut war – wenige Mädchen, die vor der Keulung das Erwachsenenalter erreicht hatten, konnten dieser Erfahrung entkommen –, kämpfte ihr Körper doch dagegen an. Der Reflex: kämpfen oder fliehen.
Er brüllte im schallgedämpften Zimmer, von ihrem Zappeln erregt, und hämmerte auf ihren schlaffen Körper, sein Gesicht wild verzerrt. Sie spürte Prellungen auf ihrem Hals und versuchte, sich in ihren Kopf zurückzuziehen und zu überstehen, was mit ihrem Körper geschah oder mit den Teilen, die seinen Angriff spüren konnten. Die Haut enthielt eine Notdosis des Schmerzmittels Fentanyl, illegal und veraltet, aber die Oberschwester hatte ihre Methoden. Sie schloss die Augen und schickte das Fentanyl in ihren Blutkreislauf, sie wartete auf den Körperschock und das Erlöschen der tanzenden Lichter unter ihren Augenlidern. Der Rest schien blitzartig zu vergehen.
Das Fentanyl-Hoch zog vorbei
Plötzlich ruckelte er zum Stillstand und brach auf ihr zusammen, sein Mund laut atmend. Sie lag still wie der Tod, der Bewusstlosigkeit nahe, aber nicht genug, um sein Gewicht nicht auf ihr zu spüren. Sie wartete, dass das Hoch vorbeizog, während er sich sammelte und seine Hosen hochzog. Sie öffnete ein Auge und spähte in Richtung Tür. Das Wesen war weg, seine Tür milchig. Vielleicht ein eigener Freier.
„Ich bin bereit“, sagte er in Richtung einer der Kameras in der Ecke ihres Zimmers und klopfte ihr sanft auf den Schenkel.
Sie setzte sich langsam auf, sorgfältig, um das Fentanyl-Hoch nicht zu verraten. Sie blickte mit leeren Augen auf. Sie wusste, was sie jetzt sagen sollte.
„War ich gut, Obi’m?“
Er beugte sich auf Augenhöhe hinab und küsste sanft ihre Lippen. „Gut? Nein, du warst toll.“
Sie tat so, als würde sie rot. „Danke.“
Klopf! Klopf! Klopf!
Der stämmige Körper der Oberschwester erschien im Türrahmen, ihr Wickeltuch fehlerlos.
„Zeit ist um.“
Er nickte der Oberschwester zu und stand auf. Sie machte den Weg nicht frei, und er musste sich an ihr vorbeizwängen, um das Zimmer zu verlassen. Als er ging, simulierte das Soundsystem des Zimmers das Klingeln von Münzen in einer Kasse. Sie warteten, eingeübt, bis die Flurtüren öffneten, um einen weiteren Parfumschwall hereinzulassen, und sich wieder schlossen.
Prellungen durch die Haut
Die Oberschwester ergriff ihr Gesicht und drehte es Richtung Licht. Sie konnten beide die Striemen direkt über ihrem Schlüsselbein sehen.
„Prellungen sogar durch deine Haut. Er schuldet das Doppelte.“
„Ich weiß.“
Die Oberschwester nickte und begann ihr den Hals zu reiben, eine Salbe, aus winzigen Nanobytes freigesetzt, die die geschundene Haut glättete und den Schaden übertünchte. „Es muss einen besseren Weg geben. Der hier ist ein Romantiker, nächstes Mal hast du vielleicht weniger Glück.“
Sie zog eine Grimasse. „Nein, gibt es nicht. Das ist der einzige Weg, wo sie nicht achtgeben.“
„Na gut.“ Die Oberschwester zog sich zurück und ließ dem Mädchen Raum, um sich zu strecken. Aus Sorge waren ihre Schlüsselbeine angespannt wie Garn. Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Unterleibs.
„Hast du es?“
Sie rollte mit den Augen und griff sich dann zwischen die Beine, zuckte zusammen und zog aus ihren Hautfalten ein kleines, perfekt ovales Fläschchen hervor. Eine milchige Flüssigkeit hing innen am Glas, die Schaumkrone ein Zeichen ihres menschlichen Ursprungs. Es war schwer, von der perversen Schönheit ihres Tuns nicht ergriffen zu sein.
„Implantat- und biodefreies Neu-Biafra-Sperma. 96 Stunden wirksam.“
Aus dem nigerianischen Englisch von Dominic Johnson
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis