"Liebe taz ...": Schwimmendes Gefängnis
■ Leserbrief zum Interview mit Kultursenatorin Helga Trüpel, taz vom 16.8.93
Ach, wie einfach ist das Weltbild mancher Bremer Politiker gestrickt: Wenn Flüchtlinge nicht auf dem Wohnschiff am Kohlehafen untergebracht werden wollen und protestieren... ja, dann können das für Frau Trüpel nur Drogendealer sein! Mit diesem Argument wird jede Auseinandersetzung über die Lebensbedingungen auf dem Schiff, über die von den Medien (ja, auch von der Taz) leider nur äußerst schönfärberisch berichtet wurde, abgewürgt. Viele Menschen haben offenbar keine Ahnung, wie die materiellen Bedingungen für Flüchtlinge hier in Bremen in den Lagern heute schon sind, und wie sie sich durch das Wohnschiff, das eigentlich mehr eine Art schwimmendes Gefängnis ist, noch verschlechtern werden.
Bis zu 400 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht (...), keine Rückzugsmöglichkeiten, das Kommen und Gehen lückenlos überwacht, Besuch nur nach Voranmeldung und Ausweiskontrolle sowie keine Möglichkeiten mehr, selber einzukaufen und zu kochen. Die als so gesund angepriesene Vollverpflegung nimmt den Flüchtlingen die letzte Möglichkeit, selbständig und eigenverantwortlich wenigstens für ihre Mahlzeiten zu sorgen, und macht sie auch auf dem Gebiet der Enährung zum ausschließlichen Objekt der Sozialbehörde.
Man kann sich vorstellen, was es für Menschen, die nicht arbeiten dürfen und auch sonst keine Entscheidungen, die uns selbstveständlich sind, selber treffen können, bedeutet, auch noch diesen winzigen Rest Selbstverantwortlichkeit und eigene Arbeit zu verlieren. Das trägt zur Zerstörung der Selbstachtung und Identität bei.
(...) Daß ausgerechnet eine Senatorin für Kultur und Ausländerintegration diese Zusammenhänge nicht begreift, ist eine politische Katastrophe. Und völlig unverständlich ist es mir, daß die grüne Partei, die sich ja mit guten Gründen gegen das Wohnschiff gewandt hat, diese Senatorin weiterhin (er)trägt.
(...)
Margot Müller
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