THEATER : Schwestern in Hassliebe verbunden
Frauen am Rande des Realitätsverlusts – das weckt Erinnerungen an Genets „Zofen“ oder an die Hudson-Schwestern in „Baby Jane“. Und tatsächlich: Auch in dem Stück „Tintenaugen“ der Pariser Autorin Arlette Namiand, zur Zeit als deutschsprachige Erstaufführung am Schauspiel Bonn zu sehen, leben zwei Schwestern in ihrer eigenen Welt, im Würgegriff gegenseitiger Abhängigkeit: Die blinde Mathilde (Tatjana Pasztor) braucht den Blick ihrer Schwester Nina, um an der Außenwelt teilhaben zu können, Nina (Nina Vodopyanova) braucht Mathilde als Schutz, denn sie ist angstkrank, fürchtet sich vor Gewittern und Hornissen, vor Träumen und Traumata.
Regisseur Ingo Berk zeichnet das Bild einer Beziehung, in der die Luft steht: Wie zwei uralte Frauen schlurfen die Schwestern über tiefschwarzen Teppichflor, längst beherrschen ewiges Gleichmaß und tonlose Sprache ihr Leben, trotz aller Blicke aus dem Fenster, zu denen Mathilde ihre Schwester immer wieder zwingt. Denn diese Ausblicke helfen auch nicht weiter: Schnell wird klar, dass Nina nicht die Dinge beschreibt, die sie draußen sieht, sondern die Schreckensszenarien, die sie in ihrem verängstigten Innern fühlt. Unklar bleibt, ob Mathilde den Betrug ahnt, sicher ist nur, dass sie ihn braucht. Denn auch sie ist gefangen im Ritual, lebt in Ninas Geschichten von Bombenterror und Straßenschlachten, nutzt die Schwester als ihren Fern-Seher, in dem nur Horrorfilme laufen – wenn nicht, dann ist Mathilde so ängstlich in ihrer Blindheit wie Nina blind in ihrer Angst.
Ein totes Leben in Hassliebe, voller gesehener, erfundener, empfundener Schrecken: Dieses Stück will es dem Zuschauer nicht leicht machen. Doch wer sich auf das tiefschürfende Szenario einlässt, wird mit viel sprachlicher Schönheit und laserscharfen Einblicken in die menschliche Psyche belohnt. Dabei bleibt die Inszenierung eher einseitig: Die schwarze, klaustrophobische Bühne (Gesine Kuhn), das mechanische Sprechen, die lastende Stille, die grauen Rumpelstilzchen-Kostüme (Kathrin Stadeler), die dumpfen Hintergrundklänge (Patrik Zeller), das bewusst tragödienhafte Spiel der beiden Darstellerinnen – all dies betont die starre, deprimierende Seite einer Schwesternbeziehung, die auch viel Dynamik ahnen lässt, ohne dass es der Regie gelingt, sie aus der Vorlage herauszukitzeln. Stattdessen resümiert zum Schluss ein Videoclip (Timo Amling) alle Schreckensbilder dieser Welt, macht weder vor dem World Trade Center noch vor Gaskammern Halt. Das schockiert nicht, das berührt nicht, das ist doof. Doch sei's drum: Dieses Stück hat was – man muss es sich nur erkämpfen. Holger Möhlmann
„Tintenaugen“: Werkstatt im Opernhaus Bonn, Rheingasse 1, Tel. 0228/77 80 08, nächste Vorstellungen: 12., 22., 29. Dezember, jeweils 20 Uhr