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Schwermut im finnischen WinterWenn es fast nur dunkel ist

Turku liegt im Südwesten Finnlands. Mit bunten Farben und viel Kunstlicht versucht die Stadt die miese Stimmung zu vertreiben.

Polarlicht über Finnland Foto: Stepahn R/imago

Janne Auvinen kneift die Augen zusammen, als würde ihn die Sonne blenden, dabei ist es ein dunkler Wintertag, an dem er mit Fellmütze und buntem Schal und dicken Handschuhen über die Fußgängerbrücke des Aura-Flusses stiefelt. Die Häuser liegen im Dunkeln, die Bäume sind nur eine Ahnung am schwarzen Nachthimmel. Er steht auf der Bibliotheksbrücke, im Rücken den Vartiovuori-Park, der älteste übrigens von Finnland. Vor ihm die Stadtbibliothek, dahinter das Zentrum mit Markt. Es ist 15 Uhr. Und wieder ist es dunkel, gefühlt wurde es nie richtig Tag, selbst am Mittag sah die Sonne matt wie hinter einer Milchglasscheibe aus.

Janne prüft die Leuchtstrahler der Brücke, die er alle paar Meter am metallenen Geländer angebracht hat. Bei Einbruch der Dunkelheit leuchtet die ganze Brücke im zarten Violett. Der Mann, ein Lichtdesigner, erhellt mit dieser Überdosis Kilowatt die Stadt – und die Gemüter. „Im Moment gibt es nur fünf Stunden Tageslicht, das macht schwermütig. Da muss nachgeflutet werden!“, so der 55-Jährige.

Die 180.000-Einwohner-Stadt Turku ganz im Südwesten Finnlands, wo der Wald in einzelne Inseln ausfranst und die Schärengebiete beginnen, liegt zwar immer noch gut 800 Kilometer südlich des Polarkreises, aber jetzt, im November, hat der Winter die Gegend fest im Griff. Eisschollen tanzen auf dem Fluss, die Wolken hängen tief, die tiefstehende Sonne hat wenig Chancen. Auf den Loipen sprinten die Langläufer unter Laternen, die Eisläufer ziehen ihre Runden im Flutlicht der künstlichen Eisbahnen des Sportsta­dions Paavo Nurmi.

Läden, Häuser, Bibliotheken, Kneipen sind hell erleuchtet, Straßenschilder und Bäume werfen Schatten auf die Straßen und Gehwege. 876 Farben der Dunkelheit. Mit Licht­installationen, viel Kunst und lustigen Aktionen die langen Nächte bespielen: das war Jannes Idee, ausgeheckt an einem der Kneipenabende, die im winterlichen Turku schon früh beginnen und endlos dauern. „Dunkel ist nicht gleich dunkel, es gibt so viele Schattierungen. Und, wenn es zu dunkel ist, wie an dieser Brücke, braucht es manchmal auch ein bisschen Licht!“

Das neue Konzept

Fünf Stunden Tageslicht: Turku im Winter Foto: mauritius images

Es folgte ein handfestes Konzept, der Rest war Glück: 2011 bekam Turku den europäischen Kulturhauptstadtstatus, da flossen Gelder für Konzepte, die sonst in den Schubladen der Behörden verschimmeln. „Wer ein echter Finne ist, wie ich, der braucht Ausdauer“, sagt Janne: „Und Humor natürlich. Schrägen Humor am besten.“

Warum 876 Farben, wurde Janne gefragt. – Warum nicht? war seine Antwort. Eine Fantasiezahl. Und warum Licht, wenn er doch die Dunkelheit feiert? Man muss nicht alles erklären. Der Mann mit dem Charisma eines lustigen Schankwirts lacht laut auf und klopft sich auf seinen festen Bauch.

Das Projekt endete nach zwölf Monaten. Zumindest offiziell. Aber Jannes Idee wurde zum Selbstläufer und zu einer winterlichen Attraktion in Finnland. Häuserfassaden, Straßen, Parks, Gehwege, Brücken, das Schloss aus dem 13. Jahrhundert strahlen seither schon am Nachmittag im Kunstlicht, das Theaterfoyer leuchtet sogar die ganze Nacht.

Janne steht jetzt am Ende der Brücke, holt sein Handy heraus. Zu den jeweiligen Licht­installationen gibt es eine App mit Musikvorschlägen: Er drückt den Button Heavy Metal, wählt Stratovarius, seine Lieblingsband. Wirbelnde Schlagzeugsoli, quietschende Bässe der E-Gitarre, kräftige Synthesizer. Stratovarius ist so was wie Rammstein des Nordens, ein musikalisches Aufputschmittel, ein Sound, der Stimmungstiefs wegknallt und die Seele erfrischt.

Licht auch durch Humor

Es braucht harten Stoff, um die Zeit von November bis März gut zu überstehen. „Wenn du Kopfschmerzen hast, sind die auch sofort weg, wenn dir jemand mit einem Hammer auf den Zeh haut“, sagt Janne. Selbst Kinder werden frühzeitig an Hard Rock gewöhnt, denn im Winter wirken zärtelnde Schmusesongs wie klebrig-süße Dauerlutscher.

Vielleicht ist es genau das, was Turku im Winter so spannend macht: dieses Abseitige, Verrückte, dass sich eine ganze Stadt mit viel Humor den lichtlosen Monaten entgegenstemmt. Als ob die Turkuer auf Jannes Impuls nur gewartet hätten, übertrumpft sich die Stadt inzwischen mit einer Art Guerilla-Beleuchtung. Bäume funkeln mit umwickelten Lichtergirlanden, die ­Kabel hängen aus einer Wohnung im ersten Stock.

In den Toreingängen ­baumeln bunte Lampions über Fahr­rädern und Kinderwagen, Lichtschranken an den Häusern knipsen Spots an. Und zu alledem blitzen an Pfosten, Hausmauern, Schildern Reflektoren in der Dunkelheit auf, auch an den Turkuern selbst, die so viel Licht nehmen, wie sie kriegen können, Reflektoren hängen an ihren Taschen in Form von Blumen­anhängern, an den Jacken und Hosensäumen, als reflektierende Wolle in Schals und Mützen verwebt.

Fassaden, Straßen, Gehwege und Brücken leuchten seither schon am Nachmittag im Kunstlicht

Turku ist eher so etwas wie eine Liebe auf den zweiten Blick. Mit weißen Ornamenten verzierte Jugendstilhäuser stehen neben schmucklosen Betonbauten, geduckte Holzkaten mit roten Fensterläden unweit abgeschubberter 70er-Jahre-Hochhäuser. Mehrere Stadtbrände und russische Zweite-Weltkriegs-Bomben hatten einst Kerben in das Zentrum geschlagen. Die Lücken wurden Jahrzehnte, Jahrhunderte später geschlossen. Ein stadtplanerisches Durcheinander.

Lust auf Süßes

Warmes Licht fällt auf den Bürgersteig des bis auf den letzten Winkel ausgeleuchteten Kauppatori-Platzes. Wie unwirklich das ist, merke ich mit Blick zum Himmel. Der ist nachtschwarz. Ab in die Markthalle. Ein über hundert Jahre altes Gebäude. Lange Gänge, Krämerläden mit Postkarten, Wolle, Blumen, Lampen. Am Fleischstand, da stehen die Leute an: Rentiercremesuppe zum Mitnehmen.

Draußen vor der Tür stoppt ein Bus, der Fahrer schaltet die Anzeige ein: „Kaffepaussi“, steigt aus, geht ins „Café Mbackery“, bestellt Heidelbeertorte. Die Frau am Nebentisch ist Verkäuferin im Marimekko-Shop am Marktplatz. Man kommt ins Plaudern. „Ach, diese Lust auf Süßes im Winter! Danach habe ich zwei Kilo mehr auf der Waage. Egal, tut gut gegen Schwermut“, sagt Saara Jonas. Die blonde Frau mit pausbäckigem Gesicht stützt den Kopf in die Hände. Zwei Kinder, stressiger Job, der Mann im Moment wenig unternehmungslustig. Mit Kuchen, Tageslichtlampen, Vitamin-D-Pillen, Kanaren-Urlaub im Januar stemmt sie sich gegen die Dunkelheit, aber „was zu viel ist, ist zu viel. Manchmal hänge ich eben einfach durch.“

Hat auch was Gutes, findet Saara: Melancholische Zeiten schärfen den Geist. Entscheidungen für große Anschaffungen trifft sie zum Beispiel in der Winterzeit. Ihre Wohnung kaufte die 40-Jährige, als sie trübsinnig war: „Da prüfe ich genauer, bin besonnener als im Sommer.“ Der Winter sei wichtig, da er die Seele ausbalanciere. Sie trinkt ihren Likör aus, der ist rubinrot, wie die Farbe auf dem Marimekko-Stoffmuster ihres Taschentuches, und verschwindet in der Nacht.

Hinter den verschneiten Dächern leuchtet ein riesiger Würfel, vom Boden bis zum Dach ist die komplette Fassade des modernen Anbaus der Stadtbibliothek verglast. An Schreibtischen blättern die Menschen in Zeitschriften und dicken Almanachen. Eine ältere Dame mit Kopfhörer strickt. Die Lesesäle sind proppenvoll. Zwei Frauen am Eingang ziehen ihre Stiefel aus und staksen auf Wollsocken zu den Bücherregalen.

Und am Wochenende Sauna

„In dicken Botten kann ich nicht denken“, sagt die eine. „Auch im Büro ist es nicht ungewöhnlich, auf Strümpfen zu laufen“, ergänzt die andere. Die moderne Bibliothek mit viel Eichenholzwänden und Glas ist jetzt im Winter quasi das Wohnzimmer von Turku, ein Zwischenstopp nach einem Geschäftstermin, vor dem Einkauf oder nach Schulschluss – auch wegen der vielen Tageslichtlampen, die hier nach Jannes Vorschlag installiert wurden. Während man in unseren Lesesälen böse Blicke erntet, wenn ein Stift zu Boden fällt oder man sich unterhält, ist die Atmosphäre hier deutlich entspannter. Man trifft hier Freunde oder Kollegen, und wenn es zu viel zu erzählen gibt, gehen sie ins Café nebenan.

Ein Tipp von der Bibliothekswandzeitung: die Sauna auf Ruissalo, einer Schäreninsel. Dahin fahren die Turkuer am Wochenende, wenn ihnen die heimische Sauna, die zu jedem Haus dazugehört, zu langweilig wird. Der Bus am nächsten Tag braucht keine halbe Stunde, schaukelt durch die karge Winterlandschaft, Straßen­schilder warnen vor Elchen, eine Brücke verbindet Ruis­salo mit dem Festland.

Ein schmaler Streifen letztes Sonnenlicht taucht den Horizont am Saaronniemi-Strand in Orangerot, das sich in der Ostsee widerspiegelt. Zwischen den verriegelten Sommerfrische­häusern steht eine kleine Saunahütte. Heute ist Frauentag. Die Damen hocken auf der obersten Bank, allesamt in Badeanzug, mit Mütze und Handschuhen. Bei 100 Grad. Eine steigt herab, gießt Wasser auf die glühenden Steine. Es gibt kein Aroma, kein Birkenreisig, keinen Ruheraum. Irgendwann schlüpfen alle Damen in ihre Badeschuhe, ziehen die Mütze tiefer in die Stirn und schreiten zur Tür.

Im Gänsemarsch geht es auf dem Steg entlang zur Treppe am Meer. Die Körper dampfen. Eine nach der anderen taucht zwischen den Eisschollen ab, lacht und prustet, bei 2 Grad Celsius!

Wie herrlich dunkel alles ist. Dann – ganz langsam – überziehen flimmernde grüne Schleier den Himmel. Polarlichter! Sie falten sich auf, schlagen Wellen, werden zu Fransen, verschwinden wieder. So wie die Frauen nach dem Saunabesuch.

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