Schweinegrippe-Berichterstatter: "Hätten Warnung herabstufen sollen"

Der britische Berichterstatter des Europarats, Paul Flynn, beklagt Intransparenz bei der WHO im Umgang mit dem H1N1-Virus. Das Ausrufen der Pandemie war "grobe Übertreibung".

Bundesgesundheitsminister Rösler ließ sich demonstrativ impfen. Bild: dpa

taz: Mr Flynn, Sie haben für den Europarat den Umgang mit der Schweinegrippe untersucht. Was sind Ihre wichtigsten Ergebnisse?

Paul Flynn: Dass das Ausrufen einer Pandemie Stufe 6 eine grobe Übertreibung war. Es war nur nach einer Definitionsänderung möglich und löste Hysterie aus. Millionen von Familien wurden weltweit in Angst und Schrecken versetzt. Für riesige Summen wurden Medikamente gekauft und nicht benutzt. Millionen von Menschen waren einem Impfstoff von zweifelhafter Qualität und Sicherheit ausgesetzt.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bislang nicht zugegeben, dass die Hürden für Stufe 6 gesenkt wurden. Etliche renommierte Wissenschaftler sind überzeugt, dass genau das passiert ist. Wer hat recht?

Paul Flynn ist 75 Jahre und Mitglied der Labour Party. Er gehört der britischen Delegation im Europarat an. Sein Bericht über den Umgang mit der Schweinegrippe wurde vor Kurzem verabschiedet.

Erst war für Stufe 6 von einer enormen Zahl von Toten und Krankheitsfällen die Rede. Das wurde durch den Kommentar ersetzt, eine Grippe-Pandemie könne leicht oder schwer verlaufen. Ich habe die WHO wiederholt danach gefragt, aber keine plausible Erklärung erhalten. Ich setze große Hoffnungen in die Untersuchung, die Harvey Fineberg leitet. Er hat einen Ruf als wirklich unabhängige Autorität.

Die polnische Gesundheitsministerin hat sich geweigert, große Mengen Schweinegrippe-Impfstoff zu bestellen. Ein gutes Beispiel?

In meinen Augen hat sie eine sehr mutige Entscheidung getroffen. Sie hatte Zweifel an der Gefährlichkeit der Grippe und hielt es für einen Skandal, dass GlaxoSmithKline forderte, die polnische Regierung solle - genau wie die deutsche - für die Entschädigung möglicher Impfopfer aufkommen. Sie war der Meinung, dass ein Impfstoff, dem GSK nicht traut, auch nicht das Vertrauen der polnischen Regierung verdient. Die Ereignisse haben ihr mit Blick auf die Grippe recht gegeben.

Bestand eine reelle Möglichkeit, dass das Virus mutieren und sehr gefährlich werden würde?

Die gibt es immer. Was wir fordern, ist, dass künftig mit mehr gesundem Menschenverstand geurteilt wird. Es war sehr viel wahrscheinlicher, dass die Schweinegrippe wie normale Grippeepidemien in 1957, 1968 oder 1977 verlaufen würde. Die Spanische Grippe mit Millionen von Toten war der außergewöhnlichere Fall. Sie fand unter Kriegsumständen statt. Möglicherweise handelte es sich auch gar nicht um Grippe. Als die Stufe 6 ausgerufen wurde, dachten die Medien, dass das Schlimmste passieren wird - wie 1918.

An welchem Punkt hätten Regierungen wissen müssen: Das hier ist keine große Gefahr?

Die ersten Berichte aus Mexiko waren wirklich beängstigend, aber erwiesen sich als ziemlich ungenau. Die Pandemie wurde im Juni ausgerufen. Im September, nachdem man den Verlauf auf der Südhalbkugel erlebt hatte, war klar, dass es sich nicht um eine große Killerkrankheit handelt. Damals hätten sie die Warnung herabstufen sollen. Aber das haben sie bis heute nicht.

Sie beklagen, dass sich die WHO weigert, die Mitglieder ihres Notfallkomitees beim Namen zu nennen. Warum?

Das waren die Leute, die die entscheidenden Beschlüsse gefasst haben - direkt bevor die Pandemie ausgerufen wurde. Und wir wissen nicht, wer sie sind und welche Interessen sie vertreten.

Hat die WHO etwas zu verbergen?

Darüber möchte ich kein Urteil fällen. Ich denke aber, dass sie ihrem Ruf schadet. Wir brauchen eine WHO, der die Menschen weltweit vertrauen.

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