Schwarz-Gelb in der Krise: Merkel fordert Abkehr von "Wildsau"-Stil
Angesichts des Chaos in ihrer Regierung hat Kanzlerin Merkel die Koalitionsparteien zur Ordnung gerufen. Die Mehrheit der Deutschen rechnet dennoch mit dem vorzeitigen Aus für Schwarz-Gelb.
BERLIN dpa | Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat nach den heftigen Streitereien in der Koalition Union und FDP dazu aufgefordert, verloren gegangenes Vertrauen bei den Bürgern durch Disziplin und Verlässlichkeit zurückzugewinnen. "Was die Umgangsformen in der Koalition anbelangt, müssen wir abrüsten", sagte sie der "Bild am Sonntag". "Wir müssen den Menschen in einer schwierigen Zeit Verlässlichkeit bieten. Nur so können wir wieder Vertrauen gewinnen."
Vor dem Hintergrund von gegenseitigen Beschimpfungen wie "Wildsau", "Rumpelstilzchen" oder "Gurkentruppe" sagte die Kanzlerin: "Ich gehe davon aus, dass die Beteiligten erkannt haben, dass das kein akzeptabler Stil ist. Das darf und wird nicht Schule machen." Merkel bestritt, dass ihre Autorität als Kanzlerin gelitten hat.
Merkel kritisierte die Diskussionen in der Union um eine Anhebung des Spitzensteuersatzes: "Wir haben in der Koalition ein ausgewogenes und den Aufgaben gerecht werdendes Paket vereinbart. Es ist jetzt geboten, dass alle in der Koalition dieses Paket auch bei den Bürgern vertreten und dafür werben."
Beim Thema Präsidentschaftskandidatur von Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) fühlt sich Merkel von der FDP nicht unter Druck gesetzt. Auf die Frage, ob sie sich durch Drohungen aus Reihen der Liberalen, den gemeinsamen Kandidaten durchfallen zu lassen, wenn es doch noch zu Steuererhöhungen kommen sollte, erpresst fühle, sagte sei: "Nein, das ist Unsinn." Sie forderte alle Beteiligten auf, "den notwendigen Respekt vor der Wahl eines Bundespräsidenten aufzubringen".
Mehr als die Hälfte der Bundesbürger rechnet dennoch mit einem vorzeitigen Ende der schwarz-gelben Koalition. 55 Prozent der Deutschen erwarten nicht, dass die Regierung noch drei Jahre hält, ergab eine Emnid-Umfrage im Auftrag von "Bild am Sonntag". Nur noch 37 Prozent gehen davon aus, dass die Koalition von CDU, CSU und FDP das Ende der Wahlperiode erlebt. Selbst 40 Prozent der Unions- Anhänger erwarten ein vorzeitiges Ende der Regierung von Angela Merkel (CDU).
Auch nach einer am Samstag veröffentlichten Infratest-dimap- Umfrage des ARD-Magazins "Bericht aus Berlin" gehen 53 Prozent davon aus, dass die CDU/CSU/FDP-Regierung noch vor dem Ende der Legislaturperiode auseinanderbricht. Nur 40 Prozent erwarten das Gegenteil.
Mit Ablehnung nahm ein Großteil der von Infratest dimap Befragten das von der Regierung vorgestellte Sparpaket auf. Vier von fünf (79 Prozent) halten es für "nicht sozial ausgewogen", nur 17 Prozent für "sozial ausgewogen". Gut zwei Drittel (67 Prozent) befürworten die Anhebung des Spitzensteuersatzes, weniger als ein Drittel (29 Prozent) ist dagegen.
Merkel forderte die SPD in Nordrhein-Westfalen auf, die Gespräche über die Bildung einer großen Koalition wiederaufzunehmen. Die "Verweigerungshaltung" der SPD-Landesvorsitzenden Hannelore Kraft sei unverantwortlich, sagte Merkel. "Ich kann der SPD nur dringend raten, in Verantwortung für Nordrhein-Westfalen wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und die Realitäten anzuerkennen.
Der Landesvorstand der NRW-SPD hatte am Freitag Koalitionsgesprächen mit der CDU eine einstimmige Absage erteilt und angekündigt, aus der Opposition heraus eigene Initiativen anzustoßen. Zuvor waren Sondierungen von SPD und Grünen mit der FDP wie bereits mit der Linkspartei gescheitert. CDU und SPD hatten bei der Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland praktisch gleich abgeschnitten; die CDU erhielt wenige Tausend Stimmen mehr. Derzeit regiert Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, dessen schwarz-gelbe Koalition bei der Landtagswahl Anfang Mai abgewählt wurde, geschäftsführend weiter.
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