: Schwanensee ade
■ Berliner Kultur im Zeitalter des Haushaltslochs - Bestandsaufnahme jetzt! Tanz: Die freie Szene boomt, und den Staatskompagnien tut der Sparzwang gut
Kaum etwas hat sich in Berlin in letzter Zeit so erstaunlich entwickelt wie der Tanz. Dabei ist es gerade mal dreieinhalb Jahre her, daß der Berliner Kultursenator a.D., Ulrich Roloff-Momin, den Tanzschaffenden der Stadt einen „langen Marsch durch die Wüste“ prophezeite. Daß Berlin eine Tanzmetropole werden könnte, wünschte er sich und den Teilnehmern des Symposiums „Tanz in Berlin“ damals zwar, aber Geld gab es so wenig, daß bald darauf das Schiller Theater geschlossen werden mußte. Die Lage war mehr als schwierig, und das nicht nur in finanzieller Hinsicht.
Die drei Ballettkompagnien an den drei staatlichen Opernhäusern (Deutsche Oper, Staatsoper, Komische Oper) boten alle das gleiche Gemischtwarenangebot aus romantischem Ballett und klassischer Moderne – „Schwanensee“, wahlweise kombiniert mit Balanchine, Béjart oder Schilling. Auch die freie Szene gab zu übermäßiger Freude keinen Anlaß. Im Gegenteil. Einstige Hoffnungsträger wie die Tanzfabrik, die in den frühen achtziger Jahren mit der Contact Improvisation die neueste amerikanische Tanztechnik nach Berlin importierte, hatten ihre beste Zeit längst hinter sich und rotierten künstlerisch im Leerlauf.
Heute indessen ist in Berlin, was den Tanz angeht, alles in Bewegung. Die freie Szene boomt, und niemand weiß so recht, wie es dazu gekommen ist. Irgendwie war die Zeit wohl reif für den Tanz, auch in Berlin. In der Spielzeit 1994/95 kam der Polithaudegen Johann Kresnik an die Volksbühne, und auch wenn dessen Arbeit derzeit zu stagnieren scheint, was die Ästhetik und den politischen Anspruch anbelangt, sorgt er mit einfallsreichen Dramaturgien regelmäßig für ein ausverkauftes Haus.
Sasha Waltz und Jo Fabian, Rubato und Joseph Tmims Toladá Dance Company stellten alle noch in der Spielzeit 1993/94 angenehm eigenwillige Produktionen vor, und in der vergangenen Saison hat die freie Tanzszene, sowohl qualitativ als auch quantitativ, einen weiteren Schub erlebt. Neben Anna Huber und ihrer herausragenden Arbeit „in zwischen räumen“ ist das vor allem Xavier le Roy, Ingo Reulecke und Alex B zu danken. Alle vier sind dabei, eine eigene Bewegungssprache zu entwickeln, das technische Niveau ist insgesamt erstaunlich gestiegen, und überall werden neue Aufführungsorte ausgekundschaftet. In Berlin finden derzeit mehr Tanzaufführungen statt, als das Jahr Tage hat, und neben manch verquast-dilettantischem Kunstquatsch sind auch im letzten Hinterhof wirkliche Entdeckungen zu machen.
Alles in Bewegung also, und das scheint – endlich – auch für die oberen Etagen zu gelten. Auch wenn die Gründe dafür nicht erfreulich sind. Doch ohne zwingende Not sind an den konservativen und schwerfälligen Opernbetrieben tiefgreifende Änderungen offenbar nicht möglich. Rund 100 Millionen Mark soll Kultursenator Peter Radunski, dessen Ressort bislang von großen Streichungen verschont worden war, bis 1999 einsparen (vgl. taz vom 12.9.). Wie er das ohne die Schließung eines Opernhauses bewältigen will, steht in den Sternen.
Die Tanzschaffenden Berlins erschreckte der Senator jedenfalls in der letzten Woche erst mal mit der Hiobsbotschaft, die drei großen Tanzkompagnien zu einer einzigen fusionieren zu wollen. Mittlerweile hat sich aber herausgestellt, daß immerhin zwei Kompagnien erhalten werden sollen: Eine an der Staatsoper mit dem Schwerpunkt romantisches Ballett und klassische Moderne und eine zweite, installiert an der Komischen Oper, mit einem eindeutig zeitgenössisch-modernen Profil. Eine Zusammenlegung, die in künstlerischer Hinsicht durchaus einen Gewinn bedeuten könnte, bedenkt man, daß die Chance, sich individuell zu profilieren, in den letzten Jahren an keiner der drei Opern wahrgenommen wurde.
Mit dem seit zwei Jahren amtierenden Tanztheaterdirektor der Komischen Oper, Marc Jonkers, und dem zu dieser Spielzeit an die Deutsche Oper berufenen Ballettdirektor Richard Cragun gibt es jetzt aber zwei Persönlichkeiten in der Stadt, die – im Gespann mit der Hebbel-Theater-Direktorin Nele Hertling – die Zukunft des Tanzes in Berlin eigentlich gestalten können müßten.
Cragun, der die Feuerprobe als Ballettdirektor noch vor sich hat, geht voller Elan ans Werk. Anders als seine Vorgänger betrachtet er die Deutsche Oper nicht als geschlossene Burg, sondern will sie für die Vorgänge in der Stadt öffnen. Junge, stilbildende Choreographen aufzuspüren und an sein Haus zu binden, traut man ihm zu, und eine zukünftige, aus Deutscher Oper und Staatsoper fusionierte Kompagnie könnte bei ihm in den besten Händen sein.
Vertrackter ist die Situation an der Komischen Oper: Dort haben zur Spielzeit 1994/95 die Niederländer Marc Jonkers (als Direktor) und Jan Linkens (als Chefchoreograph) die Leitung des Tanztheaters mit dem Versprechen übernommen, mit dem gewachsenen Ensemble einen Weg in die Tanzmoderne zu suchen. Doch das Damoklesschwert einer möglichen Abwicklung, das mangelnde Verständnis von seiten der Intendanz und das Schielen auf Auslastungszahlen in diesen gefährdeten Zeiten haben zu einem Programmgemisch geführt, das weder junges Publikum nachhaltig ins Haus zog, noch das Stammpublikum halten konnte. Und nicht nur das.
Als größter Hemmschuh erwies sich ausgerechnet Chefchoreograph Jan Linkens, der, zwar durchaus fähig und von der Kompagnie geliebt, bestenfalls so modern ist wie Schlaghosen und Sinalco. Ein zeitgenössisches Profil kann die Truppe der Komischen Oper mit ihm unmöglich gewinnen. Und Marc Jonkers, gerühmt für sein ästhetisches Gespür und in der ganzen Stadt umtriebig, hat an der Komischen Oper Anfang des Jahres erst mit einer Produktion gezeigt, wo es seiner Ansicht nach langgehen könnte.
Die mit François Raffinot zu sechs Kompositionen von Giacinto Scelsi erarbeitete Choreographie „Au-delá“ war ein Meisterstück, stieß aber bei einem Teil der Tänzer, die 50 Jahre nach Cunningham/Cage nicht verstanden, was ihr Tanz bedeuten könnte, wenn er weder Gefühle ausdrücken noch die Musik interpretieren soll, auf Widerstand und wurde auch von der Intendanz nur als Ausnahme geduldet.
Mit Jonkers könnte das Tanztheater der Komischen Oper zu ungeahnten Ufern aufbrechen und der Stadt endlich die moderne Kompagnie bescheren, die schon seit Jahren herbeigeredet werden soll. Doch dafür müßte sich Jonkers wohl von seinem Chefchoreographen trennen – und der Kultursenator die Kompagnie als eine unabhängige, der Oper gleichberechtigt gegenüberstehende Sparte etablieren.
Großspurig von einer „Tanzmetropole“ redet heute, wo man, für alle irgendwie immer noch überraschend, auf dem besten Weg dorthin ist, niemand mehr in Berlin. Selbst der Kultursenator strebt nur eine „Tanzstadt“ an. Nur den Traum vom alles überragenden Choreographenmeister (Forsythes Vertrag in Frankfurt läuft 1999 aus!), den träumt man noch weiter. Michaela Schlagenwerth
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