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■ Schwacher Rückzugsversuch eines Mannheimer RichtersDr. Müllers Grammatik

Von Liebhabern der deutschen Sprache wird seit langem beklagt, daß der Konjunktiv im offiziellen Gebrauch wie in der Alltagssprache rasch absterbe. Zumindest die 6. Strafkammer des Landgerichts Mannheim kann von diesem Vorwurf ausgenommen werden. In ihrem „Deckert-Urteil“ vom 22.7. schwankt die Kammer keinen Augenblick lang im richtigen Gebrauch der Modi. So heißt es beispielsweise zum Motiv des Täters, die Kammer „wertet aber die Tat hauptsächlich als von seinem Bestreben motiviert, die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleisteten jüdischen Ansprüche zu stärken“. Hätte die Kammer sich von Deckert distanzieren wollen, hätte sie schreiben müssen: „...motiviert, nach dem die Widerstandskräfte im deutschen Volk ... gestärkt werden müßten“. Hat sie aber nicht. Vielmehr konstatiert die Kammer als Tatsache, „daß Deutschland auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt i s t, während die Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben“. Die folgende, einschränkende Bemerkung der Kammer „was, jedenfalls aus der politischen Sicht des Angeklagten, eine schwere Belastung des deutschen Volkes darstellt“, bezieht sich lediglich auf die Konsequenz der aufgestellten Tatsachenbehauptung.

Herr Dr. Müller, Vorsitzender der 6. Strafkammer, hat gestern über seinen Anwalt eine Erklärung verbreiten lassen, die diesen eindeutigen grammatikalisch-politischen Befund zu trüben versucht. Zur öffentlichen Kritik hätten nach Dr. Müller sicher „einige mißverständliche oder unglückliche Formulierungen“ beigetragen, die „sehr bedauert werden“. Insbesondere sei „die erforderliche Kennzeichnung, daß es sich hierbei um die Ansichten des Angeklagten und nicht um die der Kammer handelt, offensichtlich zumindest teilweise nicht deutlich geworden“. Wir stehen hier vor einem in seiner Kaltblütigkeit doch überraschenden Versuch, die vollkommen eindeutigen Feststellungen des Gerichts als Produkte mangelnder Sprachkompetenz zu entschuldigen. „Abgesehen“, schreibt Dr. Müller weiter, „von der unglücklichen, in der Öffentlichkeit als überzogen beanstandeten Persönlichkeitsbewertung des Angeklagten ist aus den Urteilsgründen, so wie die Kammer sie verstanden hat, keine Billigung der Einstellung des Angeklagten abzuleiten“. „Abgesehen davon“, daß die Bewertung der Täterpersönlichkeit nicht gerade eine Nebensächlichkeit des Strafprozesses darstellt und der Begriff „überzogen“ die Kritik am Urteil verniedlicht, führt Herr Dr. Müller eine ganz neue Lesart von Urteilen ein: den Urteilstext, wie er nachzulesen ist, und den Urteilstext, wie das Gericht ihn verstanden hat.

Zur richtigen Beurteilung seiner Persönlichkeit stellt uns Dr. Müller einige biographische Daten zur Verfügung und gibt uns Einblick in sein demokratisches Weltbild. Immerhin sei er seit 25 Jahren „Mitglied der ältesten demokratischen Partei“. Oh teure SPD, wie viele seltsame Gestalten hast Du in Deiner langen Geschichte beherbergt und verdaut!

Dr. Müller ist beleidigt über die Veröffentlichung des Urteilstextes ohne seine Genehmigung. Die „Richtlinien für das Strafverfahren“, auf die er sich bezieht, gestatten es allerdings der verfahrensbeteiligten Staatsanwaltschaft, auch „Dritten“ Einsicht in das Urteil zu gewähren, wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt. Diese Frage bejaht zu haben ist eine der wenigen erfreulichen Details des Mannheimer Horrorgemäldes. Dr. Müllers schwächliche, viertelherzige, durch und durch unehrliche Rückzugsbewegung hingegen vermehrt nur unsere Zweifel an der Fähigkeit dieser 6. Strafkammer, „im Namen des Volkes“ Recht zu sprechen. Julia Albrecht/Christian Semler

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