Schulreform in Berlin: Gymnasien sind der letzte Schrei
Die Plätze für Siebtklässler werden dieses Jahr nicht reichen, befürchtet die Lehrergewerkschaft. Ein Grund: die Schulreform.
Die Anmeldungsfrist für die weiterführenden Schulen beginnt erst am 7. Februar - aber die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) prophezeit schon jetzt: Es wird einen bespiellosen Run auf die Gymnasien geben. Am Ende würden alle - nicht nur die besonders begehrten - "rappelvoll" sein, glaubt Wolfgang Harnischfeger, ehemaliger langjähriger Schulleiter der Beethoven-Oberschule in Lankwitz. Schlimmer noch: "Die Plätze werden nicht ausreichen."
Die Schulverwaltung weist das zurück. "Das entspricht nicht unserer Prognose", sagt Beate Stoffers, Sprecherin von Senator Jürgen Zöllner (SPD). Sie kritisiert: "Durch solche Behauptungen werden Eltern verunsichert."
Die Verunsicherung ist längst da. Die Sorge, das Kind nicht auf der weiterführenden Schule unterzubringen, auf die es nach Meinung der Eltern gehört, treibt alle erdenklichen Blüten. Er rechne mit einer Klagewelle bei Verwaltungsgerichten, sagt der Vorsitzende der GEW-Schulleiter-Vereinigung, Paul Schuknecht. Immer mehr Eltern würden versuchen, mit Hilfe von Juristen dem Kind den gewünschten Schulplatz zu sichern.
Bei einem begehrten Gymnasium im Süden der Stadt hat die Klagewut dazu geführt, dass in einer 7. Klasse zu Beginn des Schuljahres nicht 32 Schüler saßen, sondern 36. "Geschürt wird das durch den Hype, das Gymnasium ist das Tollste überhaupt", sagt Schuknecht, der die Friedensburg Oberschule, eine Gesamtschule in Charlottenburg-Wilmersdorf mit gymnasialer Oberstufe, leitet.
In der Stadt gibt es rund 80 Gymnasien. Neu ist der Andrang nicht. Aber bisher habe sich das auf die sogenannten Leuchttürme beschränkt, sagt GEW-Sprecher Peter Sinram. Dazu gehörten 20 bis 30 Gymnasien. Diese hätten schon immer mehr Anmeldungen als Plätze gehabt.
Für den nun einsetzenden allgemeinen Andrang auf die Gymnasien sieht Sinram viele Gründe: Die Einführung der integrierten Sekundarschule habe viele Eltern verunsichert. 2010 sind Haupt- und Realschulen zusammengelegt worden. Die Sekundarschule endet gemeinhin nach der 10. Klasse. Auf Sekundarschulen mit Oberstufe besteht aber auch die Möglichkeit, Abitur zu machen. "Die Hauptangst der Eltern ist, dass ihr Kind nun mit Hauptschülern die Schulbank drückt", sagt Sinram. Die Sekundarschulen hätten teils noch keine Zeit gehabt, sich einen guten Ruf zu erarbeiten.
Für Verunsicherung sorgen Sinram zufolge auch die neuen Aufnahmekriterien der Sekundarschulen und Gymnasien. Alle Grundschüler der 6. Klasse müssen von ihren Eltern an einer weiterführenden Schule angemeldet werden. Diesmal läuft die Frist vom 7. bis zum 18. Februar. Neu ist, dass Schulen, die mehr Anmeldungen als Plätze haben, 60 Prozent ihrer Schüler nach eigenen Aufnahmekriterien auswählen können. Je nach Schulprofil wird es darauf hinauslaufen, dass Anwärter mit dem besten Notendurchschnitt bevorzugt werden oder Kinder mit besonderen künstlerischen oder naturwissenschaftlichen Neigungen. Zehn Prozent der Plätze werden an Härtefälle vergeben, 30 Prozent unter den Anmeldern verlost. Bis dato galt bei der Anmeldung das Wohnortprinzip. Kinder mit dem kürzesten Anfahrtsweg mit der BVG hatten die größten Chancen.
Das neue Verfahren sei "allemal fairer", findet GEW-Sprecher Sinram. "100-prozentige Gerechtigkeit gibt es nicht." Doch schon kündigen Eltern an, ihr Kind in das Gymnasium ihrer Wahl einklagen wollen. Die Begründung: Die Durchschnittsnote dürfe nicht den Ausschlag geben, weil die Noten von den Grundschulen nicht nach einheitlichen Kriterien vergeben würden.
Und es gibt noch eine Erklärung für den Run auf die Gymnasien. Nach den Sommerferien 2011 drängen mehr Kinder als bisher in die weiterführenden Schulen, weil nun auch die Generation dran ist, die bereits im Alter von fünfeinhalb eingeschult worden ist. "Die Neuzugänge steigen um 16 Prozent", bestätigt die Sprecherin der Bildungsverwaltung, Beate Stoffers. Deswegen würden an diversen Schulen zusätzliche 7. Klassen eingerichtet. "Alle Kinder werden versorgt."
Wolfgang Harnischfeger kann sich die Einlösung dieses Versprechens nur so vorstellen, dass Kindern zugemutet werde, quer durch die Stadt zu fahren, weil etwa in Hellerdorf noch ein Platz an einem Gymnasium frei sei.
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