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Schulprojekt in BerlinVon der Straße auf die Bühne

Der Komponist Todd Fletcher hat mit Schülern das Musical „Streets of Wedding“ entwickelt – über das, was sie bewegt: Mobbing, Machos, Ärger zuhause.

AUch Stardirigent Simon Rattler arbeitete schon mit Berliner Schülern - die machten voll mit. Bild: RTR

BERLIN taz | Bei der ersten Aufführung hat Thomas Schumann für einen Moment geweint. Danach hat seine Frau ihn gefragt, ob das wirklich die Rüpel und Flegel sind, von denen er zuhause immer erzählt. Die ihn tagsüber ganz kirre machen, weil sie oft lieber schreien als zuhören. Weil manche von ihnen keine zwei Minuten still sitzen können. Weil nie ganz klar ist, ob sie gerade Spaß machen oder ob nach dem nächsten Schubser eine Nase blutet. Weil sie einfach kein Benehmen haben.

Es passte für seine Frau nicht zusammen: die Erzählungen aus dem Schulalltag im Brennpunktviertel Wedding – und diese Schüler, die auf der Bühne des Atze Theaters so tanzten und sangen, dass auch der Bundespräsident und der Innenminister in der ersten Reihe damals ganz gerührt waren. "Sie sind so", hat Schumann, der stellvertretende Schulleiter, zu seiner Frau gesagt. "Und sie sind nicht so."

An diesem trüben Märznachmittag lehnt er mit einer B.Z.-Ausgabe unterm Arm auf dem Pult im Computerraum der Ernst-Schering-Oberschule. Grauer Anzug, blaue Krawatte, rosa Hemd. Auf dem Titel der Zeitung steht: "Messerattacke aufn Wedding." Es hieß mal "auf Busfahrer", aber das "n Wedding" haben sie darüber geklebt. Die B.Z. ist ein Requisit für das Musical "Streets of Wedding". Nebenan singen einige Schüler gerade eine Melodie daraus. Das Musical soll ihre andere Seite zeigen, soll beweisen, dass sie auch "nicht so" sind. Nicht nur so.

Das Projekt hat die 50 Schüler schon relativ weit gebracht. Sie haben vor prominenten Politikern gesungen. Sie waren vor Weihnachten in Dahlem und haben den amerikanischen Botschafter besucht. Weil Wolfgang Schäuble, der Innenminister, von der ersten Aufführung ähnlich ergriffen war wie Thomas Schumann, hat er sich dafür eingesetzt, dass "The Streets of Wedding" nicht nur in der Hauptstadt zu sehen ist. Deshalb beginnt an diesem Freitag in Berlin eine kleine Deutschlandtournee. Danach werden sie in Köln, Nürnberg und Frankfurt ihre Botschaft singen: Wir können auch anders.

Geschichte aus dem Leben

Mitten in den Proben ist vor einigen Tagen allerdings wieder dieses Bild vom Wedding aufgeblitzt, gegen das sie sich wehren wollen. Es gab Stress, eine Messerstecherei. Fünf Schüler wurden verletzt. Die Geschichte könnte aus dem Musical stammen: Ein junger Mann, offenbar mit türkischen Eltern, hört davon, dass ein anderer seine Cousine auf die Wange geküsst hat. Er macht sich auf den Weg zur Schule, um den Typen zur Rede zu stellen. Die Sache eskaliert. Irgendwann hat er sein Messer in der Hand. Solche Szenen ereignen sich mit oder ohne Messer durchaus häufiger in einer Gegend, von der der Leiter der Ernst-Schering-Schule sagt, dass jeder Krieg auf dieser Welt in ihr Spuren hinterlässt. Aus 22 Nationen stammen die Schüler.

Patricks Vater ist Amerikaner. In "The Streets of Wedding" spielt der 16 Jahre alte Oberschüler in einer Prügel-Szene mit, die an die Messerstecherei von vergangener Woche erinnert. Gepöbel, Gerempel, Gerangel. Mittendrin bricht die Szene ab und sie beginnen ein Lied zu singen, das "You dont know" heißt. Patrick spricht den Titel mit breitem amerikanischen Akzent. Seine Hosen sind weit, die Beine stecken locker in offenen Chucks. Auf seinem Kopf sitzt eine schwarze Cap. "You dont know", sagt Patrick. "Du weißt nicht, wer ich bin. Du weißt nicht, was ich mache. Du denkst es, aber du weißt es nicht." Es bedeutet: Ihr habt überhaupt keine Ahnung. Von uns.

Todd Fletcher hatte auch keine Ahnung. Bevor er nach Berlin kam, hatte der 38 Jahre alte Komponist in verschiedenen europäischen Ländern mit Schülern Musik gemacht. Er war zwischenzeitlich Anfang des Jahrtausends auch für ein Summer-Camp in Spandau gewesen. Damals konnten ihn die Eltern oft nicht dafür bezahlen. Aber sie brachten ihm talentierte Kinder. Also hat er von manchen einfach kein Geld genommen. Eine Assistentin meinte schließlich zu Fletcher, er solle daraus besser mal ein Geschäftsmodell entwickeln. Er bewarb sich für ein Stipendium. 2006 kam Flechter dann erneut nach Berlin, entwickelte zusammen mit Dritt- und Viertklässlern in Schöneberg das Musical "Der Weg durch den Wald". Danach folgte "The Rollberg Story", eine Zusammenarbeit mit dem Verein MaDonna MädchenkultUr aus Neukölln.

Um die Arbeit mit den Jugendlichen zu finanzieren, musste Flechter nach immer neuen Partnern suchen. Der Komponist schrieb dem amerikanischen Botschafter einen Brief und lud ihn zum Mittagessen ein. Den Trick mit dem Mittagessen hatte er sich in einem Buch abgeschaut. Es kam nie dazu, aber William Timken fand Fletchers Vorschläge interessant. Der Amerikaner aus Connecticut wollte ein Musical inszenieren. In einem sozialen Brennpunkt. Die Botschaft versprach, ihn dabei unterstützen. Man empfahl ihm eine Schule.

So kam er dann im vergangenen Frühjahr in die Ernst-Schering-Aula. 150 Schüler waren da. Sie wollten alle mitmachen. Und als sie ihn dann fragten, worum es im Musical geht, sagte Fletcher, dass er keine Ahnung habe. Das müsse sich noch ergeben. In erster Linie: um sie selbst. Er ließ sie vorsingen, tanzen, rappen. Am Ende blieben 50 übrig, der Rest war abgesprungen. Zwei Monate lang improvisierten sie nachmittags zusammen. 72 Themen kamen dabei heraus. "Mobbing, Macho-Kultur, Parallelgesellschaft, Probleme zuhause", zählt Fletcher auf. Ein zentraler Konflikt war der große Bruder, der sich als Beschützer seiner Schwester aufspielt. Wie der Cousin im Messerstreit.

Der Komponist lernte die Schüler besser kennen. Er dachte: "Sie haben die teuersten Handys, aber sind eigentlich sehr arm." Mit dem, was sie ihm erzählt hatten, flog er zu seiner Mutter nach Connecticut und schrieb in drei Wochen das Grundgerüst des Musicals auf. Den groben Rahmen hatte er zusammen mit Patrick und den anderen entwickelt. Dann studierten sie die Songs zusammen ein.

Heute sagt Fletcher: "Wir kennen uns echt. Wir sind Kumpels." Gerade erst haben einige Jungs an einem Abend für ihn gekocht. Es hat sich in diesem Jahr unglaublich viel verändert, findet der Komponist. Die Leute kommen mittlerweile pünktlich. Sie wissen, dass es die ganze Szene sprengt, wenn sie nicht da sind. Sie nehmen aufeinander Rücksicht, sind eine Gruppe, ein Team geworden. Es ist eine einfache Sache, die so viel für sie verändert hat, glaubt Fletcher: "Die Idee, dass sie etwas wert sind." Das hatten sie vorher so nicht erlebt. "Sie wollen nur Träume, Chancen", sagt er. "Und sie sind bereit, dafür hart zu arbeiten."

Das zahlt sich aus, auch für ihn: Fletchers Verein Plural Arts, der kreative Bildungsprojekte wie "Streets of Wedding" organisiert, wird inzwischen vom Innenministerium und der amerikanischen Botschaft unterstützt. Der Künstler und seine Mitstreiter verdienen so ihr Geld, die Anfragen für ähnliche Projekte häufen sich.

In der Woche vor dem Tour-Auftakt in Berlin wird durchgeprobt, von morgens um neun bis abends um sieben. In der Aula ist die Bühne mit weiß-rotem Klebeband markiert. Am Nachmittag liegen Mädchen und Jungs träge auf gestapelten Stühlen in der Ecke. Hinter einem Vorhang ist eine der Darstellerinnen eingeschlafen. Jane Natz kommt herein, strenger Blick, ein Schokokeks im Mund. "Okay, ihr Lieben. Alle mal bitte auf die Bühne." Natz unterrichtet darstellendes Spiel. Sie ist die Co-Regisseurin. Es hätten sich übers Wochenende ein paar Änderungen in der Choreografie ergeben, sagt sie. Leises Murren. Natz steht auf einem Podest, Jeans, Stiefel, ein braunes Tuch um den Hals. Ihr Ton wird scharf. Jacke aus. Hinsetzen. Sie schreit kontrolliert. Langsam reißen sich alle zusammen. Es geht los.

Einmal ein Star sein

Dann singen sie: "Welcome to Our World". Diese Welt, voller Erwartungen und Enttäuschungen. Patrick steppt und klatscht neben seinem Kumpel Roger mit den geflochtenen Zöpfen. Auf dem grauen Bühnenbild hinter ihnen steht etwas von Hundedreck. Alles wirkt wie das Finale in einem dieser Hollywood-Filme, in dem sich eine Klasse aufmacht, das Getto zu verlassen - und alles gut wird.

Am Anfang, sagt Natz, wollten sie alle Stars werden und haben gehofft, dass sie jemand entdeckt. Jetzt seien sie vor allem ein Team.

Patrick hat einen Solo-Part und rappt ein eigenes Stück. Es geht es darum, dass er gerne einmal über den roten Teppich gehen würde. Nur ein Mal. Als sie im Atze Theater aufgetreten waren, hat ihn das glücklich gemacht, dass anschließend all die Leute zu ihm kamen und ihm gratulierten. Er hat sich dann auch gar nicht zu den anderen gestellt, die alle Wolfgang Schäuble umringten. An dem Abend, sagt er, sei er schließlich selbst "VIP" gewesen. Doch Hoffnung, entdeckt zu werden, will er sich keine machen. Mit seinem Mittleren Schulabschluss hat er gerade genug zu tun. Außerdem, sagt er: "Wer hofft, der wird enttäuscht."

Nach der Probe steht Patrick mit einigen anderen an einer Straßenecke. Es ist dunkel. Sie schubsen sich ein bisschen. Und für Leute, die vorbeilaufen, ist nicht klar, ob das alles Spaß ist oder ob da gerade etwas eskaliert. "Sie sind so", würde Thomas Schumann, der stellvertretende Schulleiter, sagen. "Und sie sind nicht so."

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