■ Dokumentation: Schuldig vor den Toten
Im Folgenden Auszüge aus der Erklärung Günter Schabowskis vor dem Berliner Landgericht vom 22. Februar 1996:
[...] Anders als dieser oder jener hier im Saal, der desselben Deliktes wie ich beschuldigt ist, ziehe ich die Zuständigkeit des Gerichtes dennoch nicht in Zweifel. Ich halte nichts von rhetorischen Zungenrollern wie „Siegerjustiz“. Der bundesdeutschen Rechtsprechung ist die neue Rolle durch den Lauf der Geschichte zugefallen. Sie befände sich nicht in dieser begünstigten Lage, wäre die DDR ohne jeglichen Makel dahingeschieden und nicht an Ablehnung und Widerstand der Menschen zugrunde gegangen. [...]
Das System, dessen politischer Klasse und Führung ich seit 1981 als Kandidat und seit 1984 als Mitglied des Politbüros der SED angehört habe, hat vor dem Leben, vor der Wirklichkeit versagt.[...] Unser messianischer Anspruch, zu wissen, wie die Utopie der Gerechtigkeit zu zimmern sei, muß sich nach dem Scheitern den Spruch der lebensfähigen Realität gefallen lassen. Ein nüchtern wägendes Urteil der Politik, der Geschichte, der Philosophie, gegebenenfalls auch das der Justiz ist noch das Beste, was der Utopie widerfahren kann.
[...]Die Toten an der Mauer sind ein Teil der Erblast unseres mißratenen Versuchs, die Menschheit von ihren Plagen zu befreien. Die innere Logik einer Gesellschaftsidee, die die Rolle des Individuums niedriger veranschlagt als das Gemeinwohl eines abstrakten Menschheitsbegriffes, treibt zu Inhumanität. Wir erkannten nicht, daß Menschheit entmenschlicht wird, wenn der einzelne, um ein Bild bei Arthur Koestler auszuleihen, nur der Quotient von fünf Milliarden durch fünf Milliarden ist. Banale Verwirklichung der Utopie hat sich als ein Prokrustesbett herausgestellt, in dem das Individuum auf ein fragwürdiges Idealmaß zurechtgemöbelt wird. [...]
[...]Daß ich mich moralisch schuldig fühle und mich zugleich gegen die juristische Konstruktion verwahre, mich während meiner Mitgliedschaft im Politbüro, letztlich nur aufgrund dieser Mitgliedschaft, eines mehrfachen Totschlags strafbar gemacht zu haben, ist kein Widerspruch. [...]
Der Vorwurf, eine Änderung des Grenzregimes unterlassen zu haben, machte juristisch Sinn, wenn ein solcher Versuch eine minimale Aussicht auf Erfolg versprochen hätte. Jeder Vorstoß in diese Richtung wäre unter den seinerzeitigen Bedingungen sofort als Versuch geahndet worden, die sogenannte Generallinie und die Person des Generalsekretärs in Frage zu stellen. Sie hätte im Politbüro oder in einem anderen Gremium nicht die geringste Chance gehabt. Der Betreffende hätte sich damit zu „Terminologie und Denken des Gegners“ bekannt. Wer solche Auffassungen vorzutragen oder durchzusetzen versucht hätte, wäre als „Geisteskranker“ oder „Abweichler“, als „trojanisches Pferd des Klassenfeindes“ sofort kaltgestellt worden. Formell gab es ja keinen Schießbefehl oder eine entsprechende Entscheidung des Politbüros. [...]
Ich wiederhole es: Gegenüber jedem dieser Toten fühle ich moralische Schuld. Dieses Gefühl der Schuld wird mich wohl immer begleiten. Aber ich kann nicht hinnehmen, zum Schreibtisch-Totschläger erklärt zu werden. Das scheint mir eine zu einfache juristische Verrechnung der vielschichtigen politischen, sozialen und psychologischen Umstände zu sein.
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