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Archiv-Artikel

„Schulden machen ohne Grenzen“

Der reformierte Stabilitätspakt lässt jede Menge Schlupflöcher zu, kritisiert der Wissenschaftler Michael Wohlgemuth. Investitionsprogramme bringen nichts, der deutsche Schuldenberg wird weiter wachsen

taz: Herr Wohlgemuth, der Bundesfinanzminister hat sich durchgesetzt, der Stabilitätspakt wird künftig sehr viel weniger streng gehandhabt. Was bedeutet das für die Haushaltspolitik?

Michael Wohlgemuth: Der Neuverschuldung sind keine messbaren Grenzen mehr gesetzt. Jetzt geht es im Stabilitätspakt um subjektiv interpretierbare Kosten. Bei der Wiedervereinigung zum Beispiel, zählen da nur die reinen Geldtransfers? Außerdem gelten auch „Kosten der internationalen Solidarität“ und „Kosten zum Erreichen der Ziele der europäischen Politiken“ als Ausnahmen, die nicht in die Neuverschuldung eingerechnet werden müssen. Wenn die Politiker das kreativ auslegen, dann ist der Pakt kaputt. Jede staatliche Ausgabe verfolgt irgendein Ziel, und alle Ziele finden sich irgendwo auf europäischer Ebene wieder.

Auch die Nettozahlungen der Staaten an die EU sollen nun bei der Defizitberechnung berücksichtigt werden.

Diese Ausnahme hat eine gewisse Logik. Es geht ja um Transfers, die anderen europäischen Ländern eine solide Politik ermöglichen. Hier hat man auch klare Zahlen und muss nicht über Beiträge zu europäischen Zielen oder über andere wachsweiche Begriffe streiten.

Auch in Zukunft werden Regierungen nicht auf Jahre hinweg maßlos Schulden machen können. Nach drei Jahren muss die Neuverschuldung wieder unter 3 Prozent liegen.

Man wird immer wieder Möglichkeiten finden, die Zahlen alle drei Jahre einmal schönzurechnen, etwa indem man irgendwelche Kosten unter „Beitrag zur Einigung Europas“ verbucht. Damit holt man sich dann wieder einen Freibrief für drei Jahre Schulden.

Der Pakt erlaubt jetzt in schwachen wirtschaftlichen Zeiten höhere Schulden, um die Inlandsnachfrage anzukurbeln. In besseren Zeiten müssen die Schulden abgebaut werden. Ist das nicht sinnvoll?

Das klappt doch nie. „Gute Zeiten“ sind doch auch nicht wirklich messbar. Wenn wir in Deutschland dieses Jahr ein Wachstum von 1,5 Prozent hinbekämen, wären das schon relativ gute Zeiten. Sehr viel besser ist es aufgrund der deutschen Struktur- und Wachstumsschwäche kaum hinzukriegen. So gesehen müssten wir heute schon sanieren. Gleichzeitig brauchten wir mindestens 2 Prozent Wachstum, um eine Wirkung auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. So gesehen hätten wir also permanent schlechte Zeiten und müssten immer nur neue Schulden machen. Das allerdings würde garantiert dazu führen, dass die zukünftigen Zeiten schlecht würden.

Sie glauben also nicht an eine kurzfristige Belebung der Wirtschaft durch höhere Staatsausgaben?

Man kann kurzfristig ein paar Leute im Bausektor beschäftigen, aber das bringt überhaupt nichts, da werden nur staatliche Investitionsruinen hochgezogen. Das erhöht immer wieder den Sockel von Verschuldung, was die Bewegungsmöglichkeit in zukünftigen Zeiten nur weiter einschränkt. Stark verschuldete Länder haben eigentlich immer das geringste Wachstum und die höchste Arbeitslosigkeit.

Wozu braucht man den Stabilitätspakt überhaupt noch?

Das frage ich mich auch. Das Problem ist doch, dass Spieler und Schiedsrichter hier identisch sind. Die Schiedsrichter sind die EU-Finanzminister selbst, und da wäscht eine Hand die andere. Das ist ein schlechter Dienst an der europäischen Idee und auch an der langfristigen Verlässlichkeit der europäischen Institutionen.

Die Grundidee für den Pakt war, der neuen Gemeinschaftswährung zu Stabilität zu verhelfen. Dem Euro geht es aber auch mit aufgeweichtem Stabilitätspakt bestens: Er ist stark, und die Inflation ist niedrig.

Dass wir die Inflation im Griff haben, ist der Europäischen Zentralbank zu verdanken, nicht dem Stabilitätspakt. Der Euro ist ein Erfolg, der Pakt ein Misserfolg. INTERVIEW: KATHARINA KOUFEN