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Schrottreaktor trotzte Jericho–Getöse

■ Anti–AKW–Kräfte gingen zum Abschluß der „Aktionswochen“ mit Pauken und Trompeten gegen Stader Atomkraftwerk vor / „Beton scheint noch das Beste zu sein“ / Selbst Uni Hamburg qualifiziert inzwischen Berechnungsgrundlagen des TÜV als „unqualifiziert“ ab

Aus Stade Kai v. Appen

Obwohl die Pauken, Trompeten und Sambatrommeln am Samstag die Phonskala vor dem zum Brennelementewechsel abgeschalteten Atomkraftwerk Stade hochschnellen ließ, stürzte die Betonkuppel nicht - wie erhofft - unter dem „Jericho“–Getöse der 1.500 Atomkraftgegner ein Warum habt ihrs denn nicht mit RIAS2 versucht? d. S.. Der Bibel nach hatte nämlich Gott der Gefolgschaft Mose bei der Eroberung Jerichos geraten, die Posaunen und das Kriegsgeschrei sieben Tage lang gegen die Spötter zu erheben, bie endlich die Mauer umfiel. „Der Beton an diesem Schrottreaktor scheint noch das Beste zu sein“, kommentierte eine Atomkraftgegnerin das „mißglückte“ Einsturzgezeter. Begonnen hatte das Spektakel am Morgen mit einem großen Straßenkonzert. Über 50 Musikgruppen, Musikanten, Schalmeienzügen und Künstler waren in die kleine Elbstadt gekommen, um nochmals für die Stillegung des alten, versprödeten Reaktors zu demonstrieren. Gegen Mittag zog dann das Gemisch zwischen Marschmusik und Sambaklängen unter dem lebhaften Interesse der Stader zum nahegelegenen Kraftwerksgelände in der Ortschaft Bassenfleht. Währenddessen versuchte bereits eine Gruppe Lübecker Atomkraftwerksgegner eine Blockade vor den Toren des Geländes zu errichten, wurde aber von einem großen Polizeiaufgebot weggetragen. Wenig Verständnis für künstlerische Betätigung zeigten auch die eingesetzten Zivilbeamten. Als sie zwei Hamburger beim Verzieren der tristen Asphaltpiste beobachteten, stürzten sich die Fahnder auf das Pärchen und zerrten den Mann und die Frau mit straff angezogenen Handschellen in einen Transporter. Die beiden, gegen die Anzeige wegen Sachbeschädigung erstattet wurde, konnten nach der Personalienfeststellung wieder an der Aktion teilnehmen. Überhaupt berichteten zahlreiche Atomkraftgegner über kilometerlange Observationsfahrten bei der An– und Abfahrt zum Jericho–Spektakel. Vorort hielt sich die Staatsmacht dann allerdings zurück, nachdem der Dezibelzug unter den Klängen von „Auf, auf zum Kampf...“ Gell, das gefällt dir, d. S. vor dem Kraftwerksgelände eingetroffen war. Nur gelegentlich versuchte die Polizei während des Getöses, das von rhythmischen Knüppelschlägen auf Sperrcontainer verstärkt wurde, durch Präsentation von behelmten Einheiten einzuschüchtern. Zum Abschluß der musikalischen Umzingelung, mit der zugleich die Aktionswoche gegen das Atomkraftwerk Stade abgeschlossen wurden, bezeichnete ein Sprecher des „Aktionsbündnisses“ die Kampagne als einen „vollen Erfolg“. Vor allem im atomfreundlichen Stade sei ein deutlicher „Meinungsumschwung“ erkennbar. Der Sprecher: „Früher wurde die BI als außenstehende Gruppe abgetan, heute ist sie zu einer ernstgenommen politischen Kraft in Stade geworden.“ In der Tat: Kaum eine Veröffentlichung oder Flugblatt bleibt derzeit durch die Betreiber unbeantwortet. Und selbst auf Veranstaltungen versuchen Kraftwerksvertreter sich der Diskussion zu stellen. Trotz aller Bedenken und Widerstände will die Preussen–Elektra nach beendeter Revision den umstrittenen Reaktor vermutlich noch vor dem Tschernobyl– Jahrestag wieder ans Netz gehen lassen. Nach Angaben der Betreiber haben nämlich die geheimgehaltenen Ergebnisse der Sicherheitsüberprüfung durch den „Technischen Überwachungs verein“ keine Bedenken für einen Weiterbetrieb ergeben. Demgegenüber hat ein in der letzten Woch der taz zugespieltes Gutachten der eher atomfreundlichen Universität Hamburg erhebliche Zweifel an der TÜV–Studie aufkommen lassen. Zwei Physikprofessoren hatten im Auftrag der Hamburger Bürgerschaft die Berechnungsgrundlagen des TÜV, die zu einer Verlängerung der Betriebsgenehmigung über das Jahr 1987 geführt hatten, geprüft und sie als „unphysikalisch“ angeprangert. Der TÜV hätte lediglich durch den Abbau sämtlicher „Konservativitäten“ (Sicherheitsreserven) eine akute Berstgefahr in sicherheitstechnisch unrelevanten Zonen wegrechnen können. Schon im Normalbetrieb, so die Physiker, würde der Reaktor ihrer Ansicht nach an die Grenzen der Belastbarkeit kommen. Bei einem Störfall wäre das „Platzen“ des Reaktordruckbehälters wahrscheinlich. Die Studie hat inzwischen unter den Bürgerschaftsfraktionen heftigen Wirbel ausgelöst. Während bei den Sozialdemokraten Maßnahmen zur möglichen Abschaltung noch „intern“ diskutiert werden, forderten die Grün–Alternative Liste die sofortige Einberufung einer Sondersitzung der aufgelösten Bürgerschaft. Das Ziel: Hamburg solle vor dem Oberverwaltungsgericht auf Entzug der Betriebsgenehmigung klagen.

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