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Schriftstellerin Magdalena Tulli"Nur im Unglück sind wir geeint"

Noch herrsche Staatstrauer, Kritik an den tödlich verunglückten Präsidenten Kaczynski werde deshalb nicht laut geäußert, sagt die polnische Schriftstellerin Magdalena Tulli.

Trauerbekundungen vor dem Präsidentenpalast in Warschau. Bild: dpa
Interview von Gabriele Lesser

taz: Frau Tulli, warum protestieren Polen gegen die Beisetzung des tödlich verunglückten Präsidenten Polens in der Königsgruft des Wawel in Krakau?

Magdalena Tulli: Der Wawel gilt als polnisches Nationalheiligtum. Dort liegen unsere Könige, Heilige und Nationalhelden. Dass Kaczynski dort beigesetzt werden soll, legt nahe, er habe sich ähnliche Verdienste für Polen erworben. Und das ist nicht wahr. Die meisten Polen waren mit Kaczynski als Präsidenten unzufrieden. Er wäre kein zweites Mal gewählt worden. Daher die Proteste.

Warum sind die Proteste dann nicht lauter?

Noch herrscht Staatstrauer. Die meisten Polen wollen gerade in dieser Zeit gute Polen und gute Christen sein.

Als Kaczynski noch lebte, zählte er zu den unbeliebtesten Politikern. Warum fühlen sich seine Kritiker in Polen heute schuldig?

Magdalena Tulli

64, zählt zu Polens bekanntesten Schriftstellerinnen. 1995 erhielt sie den renommierten Koscielski-Preis für "Träume und Steine". Alle ihre Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, zuletzt "Dieses Mal" (2010).

Kaczynski ist auf dem Weg nach Katyn gestorben, wo er der polnischen Offiziere gedenken wollte, die im Zweiten Weltkrieg dem Sowjetterror zum Opfer fielen. Die Pflicht zu gedenken haben wir alle. Wir sind aber zu Hause geblieben. Also sind Kaczynski und alle an Bord der Unglücksmaschine stellvertretend für uns alle gestorben. Deshalb entschuldigen sich jetzt sogar Intellektuelle wie Adam Michnik für ihre frühere Kritik an Kaczynski.

Erklärt das auch diese massenhafte Trauer der Polen um die Verunglückten?

Unserem Mythos zufolge müssen wir bereit sein, für Ehre und Vaterland zu sterben. Das gebietet der polnische Patriotismus. Aber wer will schon sterben? Diese vielen Menschen an Bord der Unglücksmaschine haben ein Opfer gebracht und sind also unsere Helden. Je mehr wir um sie trauern, umso patriotischer sind wir. Natürlich ist es auch eine menschliche Tragödie, aber eben auch eine nationale.

Aber auch die polnische Demokratie lebt doch vom Streit?

Im Grund genommen sind wir Polen Geisel eines Mythos, von dem wir uns einfach nicht befreien können. Wir haben in unserer Geschichte so viel Unglück erlebt, so viel Unfreiheit und Erniedrigung, dass das Opfersein zu unserer zweiten Natur geworden ist. So wie bei Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden. Polen können sich nicht wie andere Nationen über ihre Erfolge freuen. Denn nur im Unglück, nur in der Trauer sind wir geeint.

Sollte aber nun herauskommen, dass Kaczynski doch eine Mitschuld am Absturz trägt, bricht der Mythos dann in sich zusammen?

Das war der erste Gedanke, den wohl die meisten Polen hatten, als sie vom Absturz hörten. Denn wir alle erinnern uns, dass er 2008 mit drei anderen Präsidenten an Bord der Maschine den Piloten zwingen wollte, statt im sicheren Aserbaidschan zu landen, direkt Tiflis anzusteuern. Mitten im georgisch-russischen Krieg! Einer der Piloten, der damals in der Maschine saß und sich weigerte, in Tiflis zu landen, soll zwei Jahre lang die größten Schwierigkeiten gehabt haben. Aber darüber kann man nicht laut reden in Polen. Nicht in der Zeit der Staatstrauer.

Was, wenn nach der Staatstrauer das Protokoll des Flugschreibers veröffentlicht wird und sich der Verdacht bestätigen sollte?

Ich glaube nicht, dass wir jemals erfahren werden, was tatsächlich geschehen ist. Der Flugschreiber, der die Gespräche im Präsidentensalon aufgezeichnet hat, also auch die Frage des Piloten, ob er versuchen soll, trotz des Nebels zu landen, ist ja bereits in Warschau. Es wird wohl bei der Version des Pilotenfehlers bleiben. Denn sonst wäre Kaczynski womöglich für die Katastrophe mitverantwortlich. Das würde der polnischen Staatsräson widersprechen. Sollte es so gewesen sein, was wir aber nicht wissen, werden wir es sicherlich nie erfahren.

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4 Kommentare

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  • DH
    Dr. Harald Wenk

    @louba

    Ihre Ansicht hört sich doch etwas realsitischer an, als die Intervuietwe, die wohl mit dem polnischen Staat symphatisiert oder mit dem Präsidenschaftskanditaten der Linken, der auch mit an Bord war.

    Dieses Hochhängen der Staatstrauer deutet auf ein Aussschlachten hin.

    Der Pilot kann gut schon vor dem Flug sein Verhalten bei Abweisung durch die russischen Fluglotsen entweder abgesprochen haben odes es war von vorneherein klar, dass er landen würde. Ausserdem war der Oberkommandierende der Luftwaffe mit an Bord.

    Ich finde auch, es ist alles sehr merkwürdig.

    Auch eine Woche Sperrung wegen einer Vulkanwolke, so das kein Präsident aus dem Ausland ausser dem betroffenen Russsland gekommen ist, hat es vorher nicht gegeben.

    Mich würde auch interessieren, warum die Maschine am Samstagmorgen geflogen ist.

    Es war sogar der polnische Staatsbankchef in der Maschine.

  • C
    Chris

    Ein Flugschreiber mit wichtigen Informationen, den die Regierung nicht freigeben will ..... Wikileaks übernehmen Sie!

  • A
    Agnes

    Ich schäme mich für solche Personen wie Frau Tulli, die sich in der Name von Polen ausspricht. Sie weiß nichts entweder von der polnischen Geschichte oder vom Gegenwart.

  • L
    louba

    Frau Tulli tut ihren/meinen Landsleuten Unrecht. Sie scheint selbst den Nationalgeistern eher zu frönen, als es einem der Protestierer je in den Sinn gekommen wäre. Die meisten, die gegen das Begräbnis auf dem Wawel protestieren, sehen darin weniger die Schändung des Nationalheiligtums, sondern ein Machtmissbrauch, als eine kolossale Dreistigkeit der Verantwortlichen, die Gunst der Stunde nutzen zu wollen, um den Menschen neue zweifelhafte Nationalsymbole aufzuzwängen, von denen man langsam aber sicher in Polen die Nase voll hat. Da werden in einer Nacht- und Nebelaktion gegen den Willen – meiner Einschätzung nach - der absoluten Mehrheit der Bevölkerung Polens Tatsachen geschaffen. Mit Demokratie hat das nichts zu tun, das ist Diktatur der Kirche gemeinsam mit dem politischen Milieu um die Kaczynskis. Die Polen möchten aus ihrem Sei-Patriot-Gefängnis raus. Sie wollen keine Geißel der nationalen Mythen mehr sein. Das ist der Hauptgrund für die Proteste.

    Ähnliche Proteste wären zu erwarten, wenn man auf die Idee gekommen wäre, in Zoppot (wo L.K. wohl herkommt) eine Pyramide oder ein Mausoleum für ihn zu errichten. Proteste richten sich also auch gegen diese allgemeine Lächerlichkeit und die Götzenanbetung.

    Die massenhafte Trauer in Polen ist zum Teil Mediensache, man möge sich nur an den Tod der Prinzessin Diana oder von Michel Jackson erinnern. Beigetragen dazu haben auch die überschwänglichen Beileidsbekundungen aus dem Ausland. Man habe plötzlich nichts mehr verstanden. Was? Ein großer Pole?! Ein großer Staatsmann?! Seit wann?! Das hat die Polen mächtig verwirrt, denn bis dahin dachten seine Gegner im Lande, sie stehen als Europäer nicht allein da mit ihrer Kritik an ihrem rechtsgerichteten Präsidenten, den sie nun bald loszuwerden hofften.

    Adam Michnik wird noch bedauern, dass er sich für seine Kritik an Kaczynski entschuldigte. Seine Kritik war und bleibt berechtigt. Er hat sich mit seiner spontanen (echten?) "Rückbesinnung" nur unglaubwürdig gemacht. Ähnlich wie die Vertreter der ausländischen Regierungen mit ihrem plötzlichem Respekt für die Größe des verunglückten Präsidenten.

    Eine polnische Leserin schrieb in einem Internet-Forum, dass sie den Präsidenten zu seinen Lebzeiten nicht besonders geschätzt hat, sie habe sich leider durch die Presse und die allgemeine Hetzkampagne manupulieren lassen, erst jetzt erkenne sie die wahre Größe des Präsidenten - aufgrund der nun wahrhafterer Presseberichterstattung. Welche Rückschlüsse darf man wohl daraus ziehen?

    Massenhafte Trauer? Kann man von massenhafter Trauer der Polen sprechen, wenn man im TV 200.000 Menschen mit Kerzen und Tränen sieht? Wir sind ein Volk von über 40 Millionen Bürger. Was ist mit den Millionen von normalen Polen, die sich nicht vor die Kameras drängen und verärgert über den lächerlichen nationalen Rummel zu Hause ausharren? Hat Frau Tulli die polnischen Internet-Fora studiert, wo sich vorwiegend junge Leute äußern? Offenbar nicht, ansonsten hätte sie gewusst, was die junge Generation davon hält.

    Diese Menschen im Flugzeug sind nicht stellvertretend für uns alle gestorben, nur für die, die dieses masochistische Gefühl oder vereinigende Nationalkeule brauchen. Wir Polen als Polen sind uns keiner nationalen Mitschuld und keiner ähnlichen Verantwortung an dieser Katastrophe bewusst.

    Liebe Frau Tulli, liebe Frau Lesser, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir Polen in diesem Unglück nicht vereint sind. Im Gegenteil. Reden Sie daher uns und den deutschen Lesern nicht immer wieder denselben Unsinn ein. Wir sind kein Volk von durchgeknallten rückwärtsgerichteten Menschen.