Schriften zu Zeitschriften: Was du nicht siehst
■ Ein Osterwunder: „Der Alltag“ ist wiederauferstanden!
Vor einem Dreivierteljahr war an dieser Stelle eine Klagerede zu lesen, die das vorzeitige Dahinscheiden der Zeitschrift Der Alltag zum Thema hatte. Die schlechte Nachricht hat eine Wunderheilerin, Maruta Schmidt, Chefin des Berliner Verlages Elefanten Press, auf den Plan gerufen, die eine veritable Auferstehung zu bewirken vermochte: Der Alltag ist wieder da! (Und das auch noch zu Ostern!)
Wer je ein Heft dieser Zeitschrift in Händen hielt, weiß, daß man sich hier, anders als in fast allen anderen Kulturzeitschriften, nie auf das Formfleisch des Kulturbetriebs verlassen hat. Die Rezension und überhaupt alle Formen des meinungsstarken Sich-Beziehens auf Vorgefundenes waren immer die Ausnahme. Und wer wollte behaupten, daß man in diesen mittleren neunziger Jahren, die so halbbewußt und unentschieden ins Fin de Siècle hineinschlittern, auf ein Reservat wie den Alltag verzichten könnte, wo die Redebeiträge nicht in der Meinungsstärke, sondern in der Kunst der Beobachtung konkurrieren: Ich sehe was, was du nicht siehst!
Dieser Satz, der über dem ganzen Unternehmen stehen könnte, erschließt auch das Thema des aktuellen Hefts: Das Geheimnis, die bewußt herbeigeführte und gepflegte Asymmetrie des Wissens. Da wird jeder zuerst an den Zusammenbruch der DDR denken, der ja in der Öffentlichkeit vor allem als manchmal heilsamer, manchmal zerrüttender Bruch von staatlich erzeugten und benutzten Geheimnissen erfahren wurde. Die letzten vier Jahre waren vor allem davon gekennzeichnet, daß das Arkanum öffentlich wurde und umgekehrt die Öffentlichkeit privatisiert wurde, bis ein Dichter den anderen „Arschloch“ nannte.
Der Soziologe Georg Simmel, einer der Heiligen des Projekts Der Alltag, hat eine kleine Theorie des Geheimnisses als soziologische Form aufgestellt, derzufolge „mit fortschreitender Kultur ursprünglich Offenbares geheim wird, ursprünglich Geheimes seine Verhüllung abwirft. Tatsächlich scheint es, als ob die Angelegenheiten der Allgemeinheit immer öffentlicher, die der Individuen immer sekreter würden.“ Worauf auch immer die DDR hinauswollte, sie war auch ein Versuch, dieser Tendenz zu trotzen; ihr Scheitern ist auch ein Scheitern in der Regulation von Geheimnissen: Man hat, wie seit dem Feudalismus nicht mehr, die Angelegenheiten der Allgemeinheit sekretiert und die der Individuen beobachtet, um sie zur öffentlichen Sache machen zu können.
Nun, das ist vorbei, und der Alltag widmet sich nicht den noch offenen Rechnungen, sondern den Formen des geheimen Lebens, die weiterwuchern: Ina Hartwig zeichnet die subtile Wechselwirkung nach, in der das schwule Leben in der Sub- Öffentlichkeit der „Szene“ zu dem Geheimnis steht, das oft gegenüber Eltern, Ehepartnern oder Vorgesetzten gewahrt wird. Kurt Scheel läßt den Leser tiefe Blicke in die Abgründe seines Sicherheitstaschen-Systems werfen; man wird dieses Bekenntnis einer jener Marotten, die in unserer kalten Welt als peinlich gelten, nicht ohne Rührung lesen. Stefanie Holzer phantasiert über das, was Männer in Abwesenheit ihrer Liebsten tun, und ihre Einbildungskraft ist von so großer Präzision, daß es mich wundern würde, wenn sich da nicht mancher eiskalt erwischt fühlen müßte. Helmut Höge zeigt sich als Kenner des Berliner Nachtlebens und seiner rätselhaften Ökonomie der Verschwendung.
Aber auch die nicht zum Schwerpunkt gehörenden Beiträge sind zu preisen: Michael Rutschky, weiterhin federführender Redakteur, hat drei Miniaturen beigesteuert, die modellhaft für das Projekt Der Alltag sind; diese Kombination von Beiläufigkeit und scharfem analytischen Zugriff hat so hierzulande kein anderer zu bieten. Wunderbar auch der Essay der Politologin Karin Wieland zu dem berühmten Photo von Lee Miller in Hitlers Badewanne. Es wurde ja auch Zeit, daß die Ehre einer solchen gelehrten Beschreibung, wie man sie Gemaltem gerne zukommen läßt, endlich auch einem großen Foto zuteil wird. Jörg Lau
„Der Alltag“, Nr. 63, Februar 1994, Elefanten Press, 189 Seiten, 25 DM
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