: Schreckliches Missverstehen
Gewiss, Emmanuel Lévinas war der Leise unter den französischen Nachkriegsphilosophen. Aber so betulich, wie Salomon Malka ihn beschreibt, war er keineswegs
VON ULRICH BRIELER
Der Schüler unterliegt der Gefahr der blinden Verehrung. Salomon Malka ist ein braver Schüler, ein Eleve von Emmanuel Lévinas. Er hat über seinen Meister „eine“ Biografie geschrieben, wie er einschränkend bemerkt. Diese Gebrauchsanweisung verdient Beachtung. Denn dies ist keine Biografie im herkömmlichen Sinne. Dies ist auch keine der inflationären „Einführungen ins Werk“. Dieses Buch zeigt anderes: Spuren einer Lebensweise, Splitter einer geistigen Existenz, Überreste einer aussterbenden geistigen Spezies.
Emmanuel Lévinas (1906–1995) ist der große Unbekannte unter den Größen der französischen Geistesgeschichte. Sein Ruhm ist jungen Datums und verdankt sich einer präzisen Konstellation. Der Anfang der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts markiert mit dem Tod der französischen Meisterdenker und dem Abgesang der globalen Erzählungen das Ende einer Epoche. Auf die großen Konzepte folgt die große Leere. Die Postmoderne ist eine Antwort auf diesen Notstand, Lévinas eine andere. Beide Reaktionen stehen für den Wechsel von der Politik zur Ethik, von der aufklärerischen Pose zur offenen Geste.
Lévinas’ späte Entdeckung trifft einen bereits Emeritierten. In vielem ähnelt er Ernst Bloch. Wie Bloch beginnt seine öffentliche Wirkung im Rentenalter. Und wie Bloch prägt die jüdische Herkunft die Konturen seines Denkens. Aber anders als der deutsche Philosoph der Hoffnung scheut Lévinas die öffentliche Arena. Er wirkt im Stillen.
Die Daten seiner Lebensgeschichte sind daher schnell erzählt. Im litauischen Kaunas geboren, führt ihn sein Studium nach Straßburg und von dort nach Paris. Wie viele seiner Zeitgenossen prägt ihn die Begegnung mit Husserl und vor allem Heidegger. Am berühmten Aufeinandertreffen Heideggers mit Cassirer in Davos nimmt er persönlich teil. Den Zweiten Weltkrieg überlebt er in einem Speziallager für jüdische Gefangene in der Lüneburger Heide. Seine Eltern und Geschwister werden in Litauen von der SS ermordet, seine Frau und seine Tochter überleben im französischen Untergrund. Lévinas wird danach nie mehr deutschen Boden betreten. Nach 1945 wird er Direktor einer jüdischen Schule, in den 60er-Jahren erlebt er eine späte Universitätskarriere an der Sorbonne.
Unter den Lauten der französischen Nachkriegsphilosophie ist Lévinas der Leise. Seine tiefe Abneigung gegen den Pariser Intellektuellenbetrieb verlässt ihn auch mit seinem späten Ruhm nicht. Malka porträtiert die philosophischen Freundschaften und Begegnungen mit Blanchot, Derrida oder Ricoeur. Aber dies sind keine intellektuellen Einsätze, sondern Episoden einer Einsamkeit, die nicht nach den Gesetzen der „Rive gauche“ verläuft.
Malkas Biografie besitzt hier ihre Qualitäten, wo sie eine Lebensführung beschreibt, die uns Zeitgenossen zutiefst fremd ist. Hier im christlichen Abendland, wo niemand mehr unfallfrei die zehn Gebote aufsagen kann, wirkt eine Lebensweise störend, die sich im Alltag dem Buch der Bücher anvertraut. Hier, wo man nur augenzwinkernd über Ethik reden kann, stört ein Denken, das „den Anderen“, diese Grundfigur der Lévinas’schen Philosophie, zum unbedingten Maß des moralischen Handelns macht. Hier, wo jedes Wort sich im Voraus nach allen Seiten absichert, erscheint eine Lebensweise obskur, die in der Schrift das Leben sucht und der Lektüre größtes Vertrauen entgegenbringt.
Aber wo die Qualitäten liegen, lauern auch die Risiken. Malka gelingt es kaum, den Blick des Schülers kritisch zu kehren und dieser unzeitgemäßen Existenz Kraft zu geben. Er erstirbt in maßloser Bewunderung und übt sich in einer bildungsbürgerlich gespreizten Servilität gegenüber dem Meister. So bleiben viele Fragen offen. Um nur eine zu nennen: Warum entzieht sich ein Denken seinen politischen Konsequenzen, das früher als andere den Nationalsozialismus erkennt. Schon 1934 wusste Lévinas: „In Frage steht die Humanität des Menschen selbst.“ Ist es für eine Biografie wirklich nicht der Erwähnung wert, dass im Vorwort zu „Jenseits des Seins“, Lévinas’ zweitem Hauptwerk, die Namen der von den Nazis getöteten Familienmitglieder vermerkt sind?
Einer bestimmten Lesart wird so Vorschub geleistet: Das Denken im Bann des Anderen gerät zu einem Therapeutikum verstörter Seelen, statt ein messerscharfes Analytikum der Zustände zu sein, die unter den Menschen in Zeiten einer entfesselten Verdinglichung herrschen. Denn was steht derartigen Verhältnissen unzeitgemäßer gegenüber als eine Philosophie, die das bornierte Eigeninteresse bricht und nach sozialen Assoziationsformen fragt?
In Malkas Biografie fehlt diese Sperrigkeit. Er arbeitet dem Vorurteil des angenehmen Zeitgenossen zu, das Lévinas hierzulande anhaftet. In katholischen Akademien und ethischen Expertenrunden findet er sein falsches Zuhause. Ein schreckliches Missverstehen hat sich Bahn gebrochen. Nichts ist für Lévinas prekärer als diese Urszene seiner Philosophie: das Aufeinandertreffen mit dem Anderen. Sie ist kein netter Plausch, kein kuscheliges Beisammensein, sondern eine Situation, in der es auf Gedeih und Verderb geht. Man kann sich in seiner Nacktheit nicht verstecken, wenn es wirklich zur Begegnung kommt.
Mit dieser betulichen Haltung steht Malka keineswegs allein. Bernhard-Henri Lévy lässt sein Buch über „Sartre“ mit einer Theoriefiktion enden. Er simuliert eine Begegnung zwischen Sartre und Lévinas, die im wirklichen Leben so nie stattgefunden hat. Unter dem Einfluss des jüdischen Denkens von Lévinas konvertiert Sartre und sagt seinen Irrtümern ade. Lévy inszeniert diese Begegnung als Versöhnung, als Happyend, in der zwei Altersweise endlich zueinander kommen und die Philosophie ihre endgültige Ruhe findet.
Nun sagt dieses fiktive Techtelmechtel mehr über Lévy als über Sartre und Lévinas aus. Sartres Frage „Wer ist denn eigentlich dieser Lévinas?“, trifft eher die Vereinbarkeit dieser Zeitgenossen – und beschreibt das eigentliche Problem: Lévinas müsste gegen den Strich gelesen werden. Er eignet sich kaum als Kronzeuge für Fastfood-Philosophie und das alltagsferne Schwadronieren über ethische Grundsatzfragen.
Salomon Malkas rückhaltlose Bewunderung verschenkt derartige Aktualisierungen. Aber dies muss nicht das letzte Wort sein. Denn „nichts steht fest, was die Nachwirkung eines Werkes anbelangt“.
Salomon Malka: „Emmanuel Lévinas. Eine Biografie“. C. H. Beck Verlag, München 2004. 314 Seiten, 29,90 Euro