Schorsch Kameruns "Erfindungsabend": Du musst dich öffnen
Der erste der "Erfindungsabende" von Schorsch Kamerun und Alexander Kluge in den Münchner Kammerspiele blieb eine bunte Unterforderung. Ein Gast wurde düpiert.
Nichts fürchten die großen Häuser so sehr wie die Überalterung. Mit dem Einzug der Pop-Diskurs-Performance ins Theater versuchen sie darum schon seit geraumer Zeit, jüngere Zuschauer zu gewinnen. Das ist den Münchner Kammerspielen nun mehr als geglückt. Dicht gedrängt kauerten in der unter dem Intendanten Johan Simons eröffneten Spielhalle die Besucher auf dem Boden zwischen und vor den Reihen zum Auftakt der neuen Schorsch-Kamerun-Reihe "Holt mich hier raus (Ich bin hier vor der Wand)".
Mit sogenannten "Erfindungsabenden", erklärte der Regisseur und Sänger der Goldenen Zitronen einleitend, wolle er in lockerer Zusammenarbeit mit Alexander Kluge die Sujets, Schlagwörter und Behauptungen des Theaters überprüfen. "Was kostet die Liebe?" lautete das Motto des ersten Abends, der eine thematische Auseinandersetzung mit Andreas Kriegenburgs Kammerspiel-Projekt "Alles nur der Liebe wegen" und den Inszenierungen Réne Polleschs versprach. Das klingt spannend, bloß es blieb pure Behauptung.
Worum es hätte gehen können, ließ sich in kleinen Filmeinspielungen von Alexander Kluge ahnen, der leider abwesend war und auf der Leinwand ein weites Wortfeld von Affenliebe bis Vaterlandsliebe eröffnete, und durch eine Live-Schaltung zu Kriegenburgs Inszenierung im Schauspielhaus. Dort entspann sich ein Dialog, in dem die Kosten-Nutzen-Kalkulation aufblitzte, auf der unser Konzept von Liebe als Beziehungsarbeit basiert. Irgendwie mit alledem beschäftigen aber mochte sich keiner der Akteure, die sich auf eine postmoderne Version des altdeutschen bunten Abends beschränkten.
Kamerun, die Band Pollyester und Rocko Schamoni, der zwischendrein komische Kurzgeschichten vorlas, musizierten gutgelaunt und sangen Münchener-Freiheit-Hits. Der Schauspieler Fabian Hinrichs erheiterte mit einem Potpourri aus Sprüchen - "Liebe, das ist auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat" - und ließ Kamerun und Schamoni als armwedelnde Kraniche zum Brecht-Gedicht "Die Liebenden" im Kreis flattern.
Zum Höhepunkt des radikalen Scheiterns der fröhlichen Fusion von Pop und Reflexivität geriet ein Eklat. Für die Rolle des intellektuellen "Experten" war Prof. Dr. Marcus Coelen gebeten worden, einen Vortrag zu halten. Der Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker, der für nebenbei konsumierbare Fast-Food-Thesen ganz und gar nicht taugt, gestand zunächst seine Verunsicherung ein. "Was wollen die von mir?", fragte er sich. Dann knüpfte er lose Gedankenketten über Mythen rund um das Begehren und die Opposition zwischen dem psychoanalytischen und dem evolutionsbiologischen Begriff der Liebe. So viel Bauchfreiheit aber war Kamerun unerträglich, der seinen Gastexperten bald schon unterbrach, ihm verkopfte Hasenfüßigkeit vorwarf und ihm erklärte: "Wir probieren hier eine gewisse Echtheit. Du musst dich öffnen!" Nach einem chaotisch entgleisenden Wortwechsel, in dem er sich gegen das Diktat der privaten Entblößung wehrte, floh der völlig konsternierte Coelen von der Bühne. Dass er in die Wundertüte voller Späße und Lieder, die Kamerun und seine Freunde ausschütteten, nicht hineinpasst, wäre allerdings von vornherein absehbar gewesen.
Was sich da in peinigend-peinlichen Momenten abspielte, war gleich in doppelter Hinsicht grotesk. Einen Gast einzuladen, den man offenbar weder kennt noch kennenlernen möchte, dessen Denken man nicht versteht und dem man nicht zuhören mag, ist reichlich unsinnig. Ebenso absurd ist es, ihn zu bedrängen, sein "echtes" Selbst zu offenbaren inmitten von lauter professionellen Performern, die das Spiel mit der Authentizität und den eigenen Schamgrenzen routiniert beherrschen. Das führte im Anschluss Fabian Hinrichs lustvoll vor, der detailreich schilderte, wie ihm einst eine Krampfader aus dem Hoden entfernt worden war, ehe er sich bis auf den Slip auszog und in eine Badewanne stieg. Aus der stürmte er tropfend unter die Zuschauer und bescherte ihnen ein wenig evangelische Kirchentagsstimmung, indem er sie animierte, ihren Sitznachbarn zu sagen, wie gut sie aussähen.
Als kunterbunte lustige Unterhaltungsshow funktionierte der Abend wirklich wunderbar. Das jedoch ist ein allzu bescheidenes Fazit für eine mit so großen Versprechungen angekündigte Reihe. Vielleicht löst sich ja etwas davon im Januar ein, wenn das Thema "Evolution und Revolution" auf dem Programm steht. Zuvor jedoch sollte Schorsch Kamerun noch einmal ernsthaft nachdenken. Spontanität und "völlige Freiheit", hatte er betont, sei das Prinzip seiner Serie. In der aber kann man sich auch leicht verlaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen