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Schönes barockes Elend

■ Fotografien von Nick Waplington in der fnac-Galerie

Über vier Jahre hat Nick Waplington das Leben von zwei großen Arbeiterfamilien, die als Nachbarn in den städtischen Sozialwohnungen von Nottingham wohnen, begleitet und festgehalten. Seine Bilder zeigen das chaotische Durcheinander von Familienhysterie, und stets scheint Waplington inmitten seiner Motive zu stehen. Kinder und Ohrfeigen fliegen durch den Raum, krabbelnde Säuglinge, Hausschuhe, die wie Kaninchen aussehen, Bonbonpapierchen, Staubsaugerrohre, die in die Szene ragen und die Haare zu Berge stehen lassen. Die gegenläufigen Absichten erzeugen eine Fröhlichkeit des Nebensächlichen, die sich auf den sechs mal neun Zentimeter großen Negativen zu opulenten Bildern verbinden — ein barockes Abbild des Elends in der Nach-Thatcher-Zeit.

Im Gegensatz zu cineastischem Sozial-Kitsch wie Ken Loachs mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnete Riff Raff führt Waplington die exotische Welt armer Leute ohne verordnete Traurigkeit vor. Waplingtons Antwort auf die »grobkörnige, unterdrückte Schwarzweiß-Interpretation des Lebens der Arbeiterklasse« sind farbige Momentaufnahmen einer Haltung, die von den Freuden, Mißgeschicken und Abenteuern des Familienlebens bestimmt wird. Am arbeitsfreien Samstag werden die Kanarienvögel aus dem Käfig gelassen, und die Familie tollt herum, während drumherum nichts mehr Bestand hat.

Jene persönliche Integrität, welche die britische Wirtschaftsdepression den Abgebildeten nicht hat nehmen können, fängt der bereits preisgekrönte Waplington mit seinen Bildern ein, die zugleich sympathisch, intim und entstellend sind. Man möchte Waplington zu gern glauben, daß er die Familien nicht bedrängt hat, um den eigenen Voyeurismus bedenkenlos beiseite schieben zu können. Ähnliche Bilder, eingefaßt in Fensterglas und Holzrahmen, sind für interessierte Betrachter mit etwas Geduld täglich in den Hinterhäusern Berlins zu sehen.

Was die Serie Living Room jedoch besonders macht, ist Waplingtons Talent, das farbenfrohe Elend — für sich genommen schon den Gang zur fnac-Galerie in die Meinecke-Straße wert — wie Ausschnitte einer Traumwelt, wie im Roman Alice im Wunderland, erscheinen zu lassen. Das Kind mit dem Staubsauger ist eine Riesin von fünf Jahren, sie hat die Hände ihres Vaters geerbt, auf dessen Bauch »empty« (leer) eintätowiert ist. Die kaum dreißigjährige Mutter, tätowiert und verbraucht, wirkt wie eine Rachegöttin, die Polaroid-Bilder zerschneidet. Sogar Kaninchen gibt es hier. Stefan Gerhard

Living Room — Fotografien von Nick Waplington sind noch bis zum 17.3. in der Galerie des Medienkaufhauses »fnac«, Meineckestraße 23, Berlin 15, während der Ladenöffnungszeiten zu sehen.

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