: Schöner sterben in Vlotho
■ Der Regisseur Martin Meltke und ein wundervolles Schauspielensemble füllten das Bremer Theater zum Auftakt der Spielzeit 1998/99 mit Anton Tschechows „Drei Schwestern“
Moskau? Wer will heutzutage schon nach Moskau, wo doch selbst der Doktor Tschebutykin aus seiner Lieblingslektüre Syker KREISZEITUNG weiß, was (dort) los ist? Irina aber will trotzdem und weiterhin nach Moskau. Auch Mascha will nach Moskau. Und auch Olga, die älteste von Tschechows „Drei Schwestern“ wollte eigentlich und immer schon nach Moskau. Vielleicht, weil's da jetzt Mac Donalds gibt? Oder einen schicken Italiener? Oder Franzosen? Je ne sais pas.
Jedenfalls stehen die drei Schwestern da auf dem provinziellen Parkett einer ausmaßweise gar nicht provinziellen Bibliothek eines provinziellen Landsitzes in der Nähe einer provinziellen russischen Stadt, die vielleicht Perm heißt, aber auch Imst, Schwaz, Fusch oder – wenn's nicht zweisilbig wäre – Vlotho oder Vechta heißen könnte. Oder die Schwestern sitzen da an einer bühnenlangen Abendmahltafel und haben gerade geheiratet oder werden Männer heiraten, die mindestens eine der Schwestern lieben, die aber von ihnen nicht wiedergeliebt werden, weil die Schwestern Männer lieben, die verheiratet sind. Und so sorgen sie sich und schmollen und lachen und träumen, und man möchte mit ihnen lachen und schmollen und träumen, weil der Regisseur Martin Meltke und ein wunderbares und noch wunderbarer aus den Sommerferien zurückgekehrtes Bremer Schauspielensemble Tschechows hundert Jahre altes Stück zum Auftakt der neuen Stadttheatersaison mit Leben erfüllt haben.
„Wer an das Stück mit dem Temperament eines zielbewußten Regisseurs herangeht, wird entweder kläglich scheitern oder sich gestehen müssen, daß er diese Sprache nicht zu sprechen versteht“, warnt Reclams Schauspielführer reichlich orakelhaft. Dann freilich hat sich Martin Meltke, der in der Vorsaison Kleists Zerbrochenen Krug ganz ähnlich, aber ganz anders einstudiert hatte, ein Ziel gesetzt: Das Ziel nämlich, das Trauerspiel von den drei in die Provinz verschlagenen und dort langsam absterbenden Töchtern eines Regimentskommandeurs behutsam zu verheutigen.
Folgerichtig haben sich Meltke und Co. für Thomas Braschs Übersetzung entschieden, weil sie das Stück ebenso behutsam verheutigt und weil in ihr die Militärs im Haus der Schwestern zwar Militärs bleiben, das Militärische aber fast vollständig getilgt ist. Und folgerichtig – jedenfalls wirkt es so – haben Meltke und Co. während der Proben viel an Sprache, Gesten, Gängen und dem ganzen Kosmos von Feinheiten gearbeitet und so sehr daran gearbeitet, daß man dem Ensemble diese Arbeit gar nicht mehr ansieht, wenn sich im Theater der Vorhang zum ersten Mal öffnet.
Wenn sich der Vorhang aber zum ersten Mal öffnet, ist das nicht gleich zu erwarten. Meltkes Bühnenbildner Stefan Heyne nämlich hat einen wuchtigen Saal entworfen, der aussieht wie die Bibliothek Käpt'n Nemos auf der Nautilus oder der nutzlose, weil leere Lesesaal im Ocean Park: Weil auch das erlernte und erlesene Wissen nutzlos geworden ist, sind auf geschwungenen Wänden die Bücher nur als Silhouetten aufgemalt. Dafür schauen durch Bullaugen echte und wohlgenährte und gleichgültige Goldfische auf das Geschehen auf der Bühne und im Saal, wo bestimmt wieder einer sitzt, der einnickt oder mit dem Schlaf kämpft, doch an Meltke liegt es diesmal nicht und erst recht nicht am Ensemble.
So wuchtig das Bühnenbild zunächst wirkt, so fein dagegen loten fast alle der SchauspielerInnen in ihren Anzügen und Neureichen-Kostümen ihre Rollen in allen ihren Nuancen aus. Susanne Schrader, Irene Kleinschmidt und Gabriela Maria Schmeide als die Schwestern Irina, Mascha und Olga, Katrin Heller als tyrannisch werdende Schwägerin Natascha, Peter Pagel als pointenhaschender Lehrer Kulygin, Christoph Finger als Zyniker, der Bremen-Rückkehrer Volker Mosebach und die anderen vollbringen fast drei Stunden lang die hohe Kunst, hier nicht bloß zu spielen, sondern ihre Figuren zu leben. Daß der Musikzug des TuS Huchting zum vierten Akt „Muß i denn zum Städele hinaus“ spielt, soll hier noch erwähnt werden – denn wer will heutzutage schon nach Moskau, wo man auch in dieser Nemo-Nautilus-Provinz so schön, so komisch und so melancholisch zugrunde gehen kann.
Christoph Köster
Weitere Aufführungen: 13., 23. und 27. September um 20 Uhr im Schauspielhaus
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