■ Schöner leben: Come Together
Schöner leben
Come Together
Eines der erfreulichsten Ereignisse unseres grauen Alltags ist ja die Begegnung. Für Bruchteile von Sekunden ist man noch ganz leer, fast weiß, ohne Feind und Arg, der andere ist noch neu, ein Mensch, vielleicht ein Film, vielleicht ein Abenteuer, vielleicht spielt er mit dir. Vielleicht aber bringt er dich auch um wie wir seit der Steinzeit wissen. Ein heikles Ding, die Begegnung, besterforscht bis ins Mundwinkelspiel. Ein menschheitsgeschichtlich relativ junges Phänomen ist allerdings die inzwischen grassierende Umarmung zwischen nicht das Lager teilenden Erwachsenen.
Die Umarmung gehört ins Konnotationsfeld Erotik/Sexualität; was wir aber in unseren Kreisen an Umarmungen beobachten, ist in etwa so erotisch wie Freikörperkultur. Sie vollzieht sich in aller Regel als hochdeterminiertes Aneinanderdrücken kleinstmöglicher Körperflächen — nur Schulterkontakte gelten als voll legitim. Da bei Männern eingeschränkt auch Brustkontakte zulässig sind, beobachtet man hier unter den Begegnungsakteuren die allereigenwilligsten und bizarresten Verbiegungen: Während sich die Oberkörper nähern, entfernen sich im gleichen Maße die Unterleiber, weil überaus wirksame Tabus zum Beispiel das Aneinanderschlagen von Hodenbeuteln ausschließen.
Die entschärfte Umarmung ist in weiten Kreisen eingeführt und Pflicht. Vorsichtige und auch noch dieser Form der Begrüßung abholde Menschen haben darum die Taktik der „Vorausumarmung“ entwickelt: Hier werden überfallartig derart ausgeklügelte Hebel und Drücke gegen Arme und Schultern des Partners/Gegners eingesetzt, daß am ganzem Körper die Minimaldistanz von 20 Zentimetern erhalten bleibt. Nach außen hin wirkt so etwas herzlich.
Anthropologisch noch völlig unklar ist, wie es in der Menschheitsentwicklung zur Doppelbrisanz der Umarmungsbegegnung kommen konnte. Wir sehen in den lächerlichen Verrenkungen einen erschreckenden Ausdruck allumfassender (!) Körperfeindlichkeit, vermutlich sogar der Erbsünde. Burkhard Straßmann
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