Schleswig-Holstein Das Land wird medial wenig beachtet. Dabei besitzt es Modellcharakter: Versteckte Tugenden
Von David Joram
Schleswig-Holstein interessiert am 7. Mai keine Sau. Es geht um mehr, nämlich Europas Zukunft. Die Menschen in Frankreich entscheiden darüber, wen sie in der erwarteten Stichwahl als Hollandes NachfolgerIn ins Präsidialamt hieven. Triumphiert der Front National, wird Marine Le Pen dem restlichen Kontinent ein letztes bitteres Küsschen aufdrücken. Dann heißt es: Au revoir l’Europe.
Angesichts dieser weltpolitischen Weichenstellung geht die Landtagswahl im beschaulichen Schleswig-Holstein am gleichen Tag bundesweit fast unter. Verständlich. Unverständlich finde ich, warum Schleswig-Holstein auch sonst immer untergeht, egal ob nun parallel zum eigenen Demokratiefest eine élection présidentielle stattfindet oder nicht.
Kürzlich war ich ja dort, genauer in Husum, Flensburg und Dersau, um drei taz.meinland-Veranstaltungen mitzuerleben. Um Küstenschutz, Grenzkontrollen und Dorfsterben drehten sich die intensiv geführten Debatten. Ganz irdische Probleme wurden angesprochen: Was passiert im 945-Einwohner-Ort Dersau, wenn am 1. April (kein Scherz!) die Bank schließt?
Früher hieß Schleswig-Holstein für mich, dass viel Wasser mit viel Fisch an viel Küstenstrand drückt. Erst einmal zuvor war ich in journalistischer Mission im hohen Norden unterwegs gewesen. Im letzten Oktober war das, ich traf Achille Demagbo für eine Reportage in Kiel. Demagbo ist Schwarzafrikaner, ich bin Afrodeutscher. Während ich bei der taz gelandet bin, heuerte er bei der AfD an. CDU sei ihm nicht konservativ genug, argumentierte der Beniner Demagbo in gebrochenem Deutsch. Seit dem Treffen mit diesem wahrhaft politischen Exoten blicke ich intensiver nach Schleswig-Holstein.
Mehr Europa, weniger Nationalstaat fordert etwa die dänische Minderheit im Flensburger Raum, verbunden mit regionalem Selbstbewusstsein. Auch auf anderen Feldern präsentiert sich Schleswig-Holstein als eine Region mit Modellcharakter – für Deutschland und Europa. Eine Parallelität an Prozessen wird dort vollzogen, die andernorts unliebsame Kräfte freisetzen würde. Die Schlagworte, die aktuell kursieren und die Landespolitik auch in Zukunft beschäftigen werden, liegen auf dem Tisch: Energiewende, Digitalisierung, Küstenschutz, Flüchtlinge, Grenzkonflikt. Das packt man an, manchmal vielleicht zu fest und gesteuert von monetären Interessen. Doch während woanders politische Überzeugungen ratzfatz von Bord fliegen – man denke etwa an das grüne Wohlstandsländle Baden-Württemberg, wo die AfD im letzten Jahr über 15 Prozent holte – hält Schleswig-Holstein Kurs. Die AfD verfängt hier nicht (was vielleicht auch an Achille Demagbo liegt?). Irgendwas läuft also besser.
Vielleicht liegt es an den dörflichen Strukturen, die mit familiären vergleichbar sind. Reibungspotenzial besteht immer, weil trotz aller Homogenität jeder seine eigenen Ziele verfolgt. Dennoch arrangiert man sich am Ende des Tages. Weil es nicht anders geht. Weil jeder Deal – und sei es ein fauler – einen gewissen Ertrag bringt. So entstehen Solidarität, Respekt und Sachverstand, Dinge, die den Blick für das Wesentliche schärfen und Fortschrittsdenken ermöglichen. Im Grunde genommen schützen die bürgerlichen Tugenden in Schleswig-Holstein vor populistischer Dampfplauderei. Nicht defensiv, sondern offensiv geht man Veränderungsprozesse an. Besonnen und unaufgeregt. Das wünschte man auch Europa.
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