: Schlecht für das Leben
STRAHLUNGSMIX Die Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Radioaktivität macht keinen Sinn mehr – die Wirkung ist die gleiche
VON CORD RIECHELMANN
Es gibt eine natürliche Radioaktivität, der sich Lebewesen nur schwer entziehen können. Das in der Luft vorhandene Edelgas Radon kann über die Atmung in die Lunge gelangen und dort über seine Zerfallsprodukte „weiterleben“. Aus der Nahrung werden vor allem Kalium-40 und Radium-226 in den Körper aufgenommen. Wobei sich radioaktive Substanzen über die Nahrungskette im Körper anreichern können. Eine dritte Quelle der natürlichen radioaktiven Strahlung kommt aus natürlichen Stoffen der Umgebung, vor allem Kalium, Thorium und Radium. Die damit verbundene Strahlenbelastung kann von Gegend zu Gegend extrem schwanken. In Gebieten, in denen Uran vorkommt – im Fichtelgebirge und dem angrenzenden Erzgebirge – ist die terrestrische Strahlung wesentlich höher als etwa in der norddeutschen Tiefebene. Die Höchstwerte für solche Strahlenbelastungen finden sich in Regionen Indiens, Brasiliens und Australiens. Zu diesen Strahlungsquellen kommt noch die kosmische Strahlung hinzu, die etwa 17 Prozent der gesamten natürlichen Strahlung ausmacht.
Radioaktive Partikel
Nun ist es allerdings so, dass sich die natürliche Strahlung heutzutage nicht mehr eindeutig von der sogenannten künstlichen Strahlung unterscheiden lässt. Als sich am 16. Juli 1945 bei Almogordo in der Wüste von New Mexico durch eine überirdisch explodierte Atombombe eine Wolke radioaktiver Substanzen in die Atmosphäre verteilte – und darüber natürlich auch in die Nahrungskette tierischer und menschlicher Lebewesen gelangte –, war die Herkunft der Strahlungsquellen nicht mehr eindeutig bestimmbar. Das gilt natürlich auch für die unterirdischen Atombombenexplosionsversuche, die der französische Staatspräsident Jacques Chirac vom September 1995 bis zum Mai 1996 auf dem Südsee-Atoll Mururoa veranlasste. Radioaktive Partikel fallen nach solchen Experimenten ja nicht nur auf Feldern oder Wiesen nieder, wo sie im besten Fall vom Regen in tiefe Regionen der Erde gespült werden. Sie verbreiten sich auch im Meer, und wie sie dort verbreitet werden, das ist, wenn auch kein Rätsel, so doch wenig verstanden.
Die Unterscheidung von natürlicher und künstlicher Radioaktivität macht, wenn man die Folgewirkungen auf lebendige Organismen betrachten will, keinen Sinn mehr. Genauso wenig, wie es beim Desaster um das japanische Atomkraftwerk Fukushima einen Sinn macht, die Katastrophe in eine von der Natur gemachte, Erdbeben und Tsunami, und in eine menschengemachte, Atomkraftwerk, aufzuteilen. Wenn ein Erdbeben ein Atomkraftwerk zerstört, ist das keine Naturkatastrophe mehr. Es liegt hier ein Mischverhältnis vor, in dem sich Natur und Kultur nicht mehr voneinander trennen lassen. Dasselbe Mischverhältnis bestimmt heute die radioaktive Strahlenbelastung auf der Erde. Der Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Radioaktivität liegt allein im Ursprung. Die Wirkung ist die gleiche – sie hängt von der Dosis ab. Und bei der spielen eine Rolle: die Art der Strahlung, die verschiedenen Belastungen, ob sie etwa äußerlich einwirkt oder über die Nahrung, die Dauer der Einstrahlung und die biologische Wirksamkeit.
Man muss das immer noch betonen, weil es immer noch Nachwirkungen jener bis in die sechziger Jahre gängigen Werbung für Radonbäder gibt, die die heilende Wirkung radioaktiver Substanzen anpries. Radioaktive Substanzen wirken auf Körper von Säuge- wie Beuteltieren in jedem Fall negativ. Dabei sind die Auswirkungen in Relation zur Dosis unterschiedlich. Die im radioaktiven Zerfallsprozess entstehenden Wasserradikale sind immer sehr reaktiv und greifen bestehende chemische Bindungen im Körper an. Bis zu bestimmten Dosen kann der Körper damit umgehen und die Schäden reparieren. Bei Tieren kommt hinzu, dass sie sehr unterschiedlich auf die Strahlen reagieren können, was manchmal auch einfach ihrer Lebensweise geschuldet ist. So erholten sich die Rattenpopulationen auf manchen Südseeinseln von Atomversuchen relativ schnell. Das hing mit ihrer schnellen Generationsfolge zusammen und damit, dass sie ihre unterirdischen Erdgänge, wo es ging, als Reaktion auf die Bombe tiefer gelegt hatten und somit der ersten heftigsten Strahlung halbwegs ausweichen konnten. Ansonsten zeigen aber auch Ratten jene Krankheitserscheinungen, die auf Strahlenbelastungen folgen: Erbrechen, Haarausfall, Blutkrankheiten, Krebs. Ein Unterschied zwischen tierischen direkten körperlichen Reaktionen und denen von Menschen liegt dann meist nur in der Krebsart, an der sie sterben. Nicht alle tierischen Organzellen reagieren wie die der Menschen. Auch lassen sich bei manchen Tieren Sensoren für besonders intensiv und über lang anhaltende Zeit strahlende Regionen vermuten. In Australien fand man an manchen „natürlichen“ Strahlungsgebieten weniger Beuteltierarten als in nicht strahlenden. Das kann eine Folge der „Geschichte“ sein. Denn auch bei Beutel- wie Säugetieren gehört Unfruchtbarkeit zu den nicht direkt bösartig auf den Körper wirkenden Folgen der Strahlung.
Hohe Strahlenwerte
Dass viele Tierarten die Atomversuche und den mit der Atomwirtschaft entstehenden neuen Strahlungsmix ganz gut auszuhalten scheinen, hat mehrere Gründe. Vögel können leicht neue Lebensräume finden, wenn die alten zerstört sind. Fische können in die Weiten der Meere ausweichen. Bei Nagetieren könnten es ihre kurzen Generationsfolgen und stets schwankenden Populationsgrößen sein, die eine für ihre Arten zumindest nicht ungünstige Entwicklung unter Strahlungsverhältnissen ermöglicht. Was vielleicht auch in etwas anderer Weise für die immer wieder durch besonders hohen Strahlenwerte auffallenden Wildschweine gilt. In ihrem Sozialsystem haben diese von Natur aus besonders viele weibliche Tiere im Stadium der Nichtvermehrung gehalten. Unfruchtbar gewordene Tiere würden da nicht weiter auffallen. Doch fehlt es auch hier an Studien über die Folgen zum Beispiel von Tschernobyl.
Eine Ausnahme ist da die Arbeit von Cornelia Hesse-Honegger. Die ausgebildete naturwissenschaftliche Illustratorin hat in der Umgebung von Atomkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Atomtestgebieten Insekten gesammelt und mithilfe eines Elektronenmikroskops nach der Natur auf Aquarellen abgebildet. Die äußerlich sichtbaren Schädigungen wie stummelförmige Fühler oder verschrumpelte Flügel, die sie dabei fand, lassen nur einen Schluss zu: Auch für Insekten sind Strahlenbelastungen äußerst ungesund.