Schlagloch: Mit Sicherheit ohne Freiheit
Wer den Staat entfesselt, um Terrorismus besser zu bekämpfen, sorgt für mehr Gewalt.
M ein Freund, ein professioneller Vielflieger, stand vor der Lounge am Warschauer Flughafen und hörte, wie die Frau am Eingang einem jungen Mann den Zugang verweigerte. Der Mann sah arabisch aus, die barsch vorgetragenen Argumente der Frau waren schwer verständlich. Mein Freund zeigte seine Senatorcard vor, und lud den jungen, arabisch aussehenden Mann in die Lounge ein, wie es als Inhaber dieser privilegierten Karte sein gutes Recht ist. Die Frau am Eingang nickte giftig. Die beiden Männer hatten sich kaum hingesetzt, da erschien eine resolute ältere Frau in Begleitung mehrerer überformatiger Sicherheitskräfte und verkündete ohne viel Federlesens, beide hätten die Lounge sofort zu verlassen, denn was mein Freund sich erlaubt habe, sei eine Unverschämtheit.
Als mein Freund keine Anstalten machte, sich aus dem bequemen Sessel zu erheben, legte ihm einer der Sicherheitsmänner die Pratze auf die Schulter. Mein Freund drückte sie unwirsch weg, nicht zuletzt, weil es sich um seine verletzte Schulter handelte. Er rief aus: "Fassen Sie mich nicht an." Das Gegenteil geschah. Die Sicherheitsleute bogen seine Arme grob nach hinten und legten ihm Handschellen an. In dem nachfolgenden Gerangel flüchtete der arabisch aussehende Mann aus der Lounge. Mein Freund landete in eine Verwahrungszelle, sein Handy wurde ihm abgenommen; kurz darauf brachte ihn die Polizei in das städtische Gefängnis, und erst am nächsten Tag setzte sie ihn schließlich in ein Flugzeug nach Hause.
Auf Anfragen der deutschen Botschaft teilten die Behörden mit, mein Freund sei schwer betrunken gewesen und habe sich gewalttätig widersetzt. Tatsache ist: Er war für fast 24 Stunden in einem jener rechtfreien Räume verschwunden, die sich zunehmend auftun, etwa an Flughäfen.
Ich habe keine Terrorangst, die angeblich laut Medien die meisten von uns umtreibt. Aber ich habe sehr wohl Staatsangst. Denke ich an den Staat in der Nacht, bin ich sofort um den Schlaf gebracht. Die Gründe liegen vielleicht in meiner bescheidenen Kenntnis der Weltgeschichte: War die größte Geißel der Menschheit nicht seit jeher der starke Staat? Nazideutschland, Sowjetunion und Mao-China dürften als Beispiele ausreichen. Wenn ich am Flughafen abgegrapscht werde, habe ich Schreckensvisionen von Uniformierten, die einen festhalten und behandeln können, wie es ihnen beliebt. Und genau das soll laut Vorstellungen eines Mannes namens Wolfgang Schäuble möglich gemacht werden. Die Eingriffsrechte der Behörden sollen so sehr erweitert werden, dass von bürgerlichen Freiheiten nicht mehr die Rede sein kann.
Genau genommen sind Schäubles Ideen vage, schwammig, wie aus einem Nebel heraus gedacht, den starke Psychopharmaka verursachen. Wer soll denn entscheiden, wie verdächtig jemand sein muss, bevor er das Internet nicht mehr benutzen oder gar erschossen werden darf? Bei welchen Verdachtsmomenten verliert der Verdächtige seine Menschenrechte?
Es geht Schäuble offensichtlich nicht um seine unausgegorenen Vorschläge im Detail, sondern um eine perfide Strategie, die schon in Großbritannien erfolgreich vorgeführt wurde. Ein Innenminister stellt überzogene Forderungen, die die Öffentlichkeit empören, sodass die "gemäßigtere" Forderung, etwa des Premierministers oder der Kanzlerin, wie ein vernünftiger Kompromiss aussieht. Beispiel: 90 Tage Haft, bevor der Verdächtige dem Richter vorgeführt werden muss - also das Aufheben des Habeas-Corpus-Prinzips, das den Rechtsstaat begründete. So haben wir es jedenfalls in der Schule gelernt. Doch Schulbücher sind ja schnell umgeschrieben!
Nach dem öffentlichen Aufschrei heißt es dann: Ist ja schon gut, machen wir nur 28 Tage daraus. Nur können wir nicht garantieren, dass die Terroristen in diesen 28 Tagen zu reden beginnen oder umfassend überprüft werden können. Wie wäre es daher mit Foltern, nur ein kleines bisschen? Im Klartext: Schäubles Zynismen haben den Zweck, den Untertanengeist in diesem Land zu wecken - eine Übung in vorauseilendem Gehorsam.
Offensichtlich muss dem Herren Schäuble und Teilen seiner Partei erklärt werden, dass Freiheit ein absolutes Recht ist, nicht ein Privileg, das der Staat gnädig seinen Untertanen zugesteht, wenn diesen zugetraut werden kann, sich brav zu benehmen. Mit anderen Worten: Freiheit ist keine Senatorcard. Und wer tatsächlich glaubt, die Polizei oder die Geheimdienste würden die Sonderrechte, die ihnen gewährt werden sollen, nicht zur Gänze ausnutzen oder sogar missbrauchen oder nicht irgendwann noch weiterreichende Befugnisse fordern - der lebt in einem Wolkenkuckucksland.
Zudem ist es mehr als fragwürdig, ob mehr Staatsmacht zu mehr Sicherheit führt. Terrorismus und Staatsterror sind nicht voneinander getrennt durch eine unüberwindliche Mauer, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Wer den Staat entfesselt, um den individuellen Terror effektiver zu bekämpfen, erhöht das generelle Niveau der Gewalt. Der Terrorismus wäre viel schwächer und teilweise inexistent ohne staatliche Patronage.
Al-Qaida hat seine Mitglieder lange Zeit fast ausschließlich aus den Reihen der sogenannten Arabo-Afghanen rekrutiert, die vom CIA über den pakistanischen Geheimdienst ISI mehr als ein Jahrzehnt lang nicht nur finanziert, sondern auch in allen möglichen, vor allem inhumanen Terrortechniken geschult wurden. Damals wurden absichtlich die brutalsten extremistischen Kämpfer rekrutiert.
Schätzungsweise 30.000 solch fanatischer Frankensteins wurden mit amerikanischen Steuergeldern geschaffen. Aus dieser Zeit stammt auch die Umwandlung der Koranschulen in paramilitärische Ausbildungsstätten, ein in der Geschichte des Islam völlig neues Phänomen. In diesen Madrassen durften die Schüler auch Mathematik lernen, und zwar anhand von Lehrbüchern, die in der University of Nebraska erstellt wurden, bezahlt von der "US-Agentur für internationale Entwicklung".
Beispiel einer Rechenaufgabe für die vierte Klasse: "Die Geschwindigkeit einer Kalaschnikow-Kugel beträgt 800 Meter pro Sekunde. Wenn ein Russe 3.200 Meter von dem Mudschaheddin entfernt ist, wie viele Sekunden braucht die Kugel, bis sie den Russen in den Kopf trifft?" Solche Bücher werden immer noch in Afghanistan und Pakistan benutzt. Bücher, in denen die Kinder aufgefordert werden, die Augen der Feinde auszustechen und deren Beine abzuhacken. Organisiert, bezahlt und geliefert von den zuverlässigen Behörden eines zivilisierten Staates. Zweck: die Sicherheit der westlichen Welt.
Als ich heranwuchs, griffen kritische Geister schnell zum Faschismusvorwurf gegen die Staatsgewalt. Wehret den Anfängen, hieß es. Dieses Mantra ist wohl zu oft zu voreilig ausgesprochen worden, denn es hat seine Kraft eingebüßt, und heute, da wir uns ernsthafte Sorgen machen müssen, ist das Echo der einstigen Parole verklungen. Wer jemals gedacht oder gefühlt hat, dass er ohne Freiheit nicht leben kann, der sollte jetzt aufschreien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!