■ Schlagloch: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger Von Götz Aly
Die einen empfinden den derzeitigen Bundespräsidenten als optische und akustische Zumutung: Dieser Karpfen mit dem gutturalen „R“, muß das sein? Für andere repräsentiert er heimatliche Bodenständigkeit. Er steht für die schlichte Tatsache, daß Kultur, Religion und Bürgersinn in Deutschland nur südlich des Limes blühen. Nordöstlich wohnen die Heiden: Die ewig Zukurzgekommenen, diejenigen, die sich weder auf Rom noch auf Jerusalem beziehen, sondern auf Wotan und – „pudelnackt und ohne Hemd“ – auf Häuptling Hermann, den Cherusker. Die halten den Waffengang im Teutoburger Wald (9 n. Chr.) nach wie vor für einen Sieg. Denen bedeutet der liebe Gott so wenig wie das Hilda- Törtchen. Sie wissen einfach nicht, wovon die Rede ist. Ob er es will oder nicht, Roman (nomen est omen) Herzog muß die Deutschen in ihrem tiefsten lokalpatriotischen Sein spalten.
Doch dem Mann, der uns vor dem obersächsischen Stephen Heitmann rettete, der den harmoniesüchtigen Johannes Rau ins rot- grüne Abseits verwies und der – kaum im Bellevue eingezogen – auf eine zweite Amtszeit verzichtete, gelang zur Freude seines Mentors Kohl vor allem eines: Nach Wochen schon machte er seinen Vorgänger im Amt – wer war das noch? – vergessen.
Beherzt, niemals glatt absolvierte Herzog als erstes den Spezialslalom des 50jährigen Gedenkens. Und nun also, alle Jahre wieder, die Weihnachtsansprache. Zwar scheint dieser präsidiale Brauch alt zu sein wie der Westerwald, tatsächlich ist er fast so traditionslos wie die schlachtfrische, bioaktive Dannenberger Ökogans.
In den ersten zwei Jahrzehnten der alten Bundesrepublik sprach noch stets die Exekutive in Gestalt des Kanzlers. Erst 1970 wurde mit der schönen, von Adenauer begründeten Gepflogenheit gebrochen. Im Jahr davor hatte sich Willy Brandt ein erstes und letztes Mal in der Rolle eines säkularisierten Engelchens versucht und gab sie dann angewidert an den Präsidenten ab. „Gefühlvolle Deklamationen sind nicht meine Sache“, hatte der Lübecker Atheist sich 1969 entschuldigt – und unter Hinweis auf die „Regeln wirtschaftlicher Vernunft“ Sparmaßnahmen angekündigt. Gleichzeitig nutzte der die Gelegenheit, um die DDR halbwegs anzuerkennen. Wo Adenauer, für den östlich von Köln- Deutz Sibirien begann, wenn überhaupt, frank und frei von den „Bezirken der Gewalt“, von „Sklaverei und Finsternis“ und von „der Nacht der Unfreiheit“ gesprochen hatte, meinte Brandt: „An der Realität der innerdeutschen, der zwischendeutschen Nachbarschaft wird auf die Dauer niemand vorbeikommen.“ Schließlich näselte er gelangweilt in die Fernsehkammeras: „Weihnachten ist nun einmal ein ganz besonderes Fest.“
Seit dieser Pleite sprechen die Präsidenten. Gott sei Dank. Damit waren die Behinderten und Einsamen als weihnachtlicher Grundakkord erfunden. Davon abgesehen setzte Heinemann auf Moral, Scheel auf „unsere Fußballnationalmannschaft“ und die antiterroristische Stärke der Demokratie. Wo Adenauer noch die Intaktheit der Verhältnisse von vor 1914 beschworen, fürsorglichst der „Kriegsgefangen und der noch in Haft befindlichen Kriegsverurteilten“ gedacht hatte, rückte der Sozialliberale das „Recht, unserer eigenen Geschichte und der Welt frei ins Auge zu blicken“ in den Mittelpunkt. Carstens beharrte beamtenmäßig auf Vollständigkeit: Jeder Polizist, jede Rentnerin, jeder Rumäniendeutsche sollte sich in seinen Ansprachen („Sehr geehrte Damen und Herren!“) wiederfinden. Weizsäcker appellierte 1988 an die „lieben Landsleute“ und machte die Alternativen zu Etablierten: „Ob sie für die Frauen, die Umwelt oder den Frieden eintreten, sie stemmen sich gegen den Kult der Gegenwart.“
Wer in der einschlägigen deutschen Medienhistorie weiter gräbt, stößt unweigerlich – geschmacklos, aber so ist die deutsche Geschichte – auf Goebbels. Der hatte das Fest des Friedens und der Liebe erst 1939 richtig entdeckt: „Weihnachtliche Sentimentalität“, notierte der Propagandaminister damals, „das können wir in diesem Jahr gar nicht gebrauchen. Wir müssen unser Volk hart machen.“ Im folgenden Jahr hielt er „eine ganz einfache Rede“; 1941 reichte das kaum mehr: „In einer Zwiesprache von Mensch zu Mensch“ erinnerte er da an den „harten und klirrenden Schritt des Jahrhunderts“ und selbstverständlich duzte er seine lieben Volksgenossen: „Unsere Weihnachtskerzen haben wir an die Ostfront geschickt, und statt der Puppenstuben, Burgen, Bleisoldaten und Kinderkanonen haben unsere Fabriken ...“ Doch irgendwie hatte er den Ton nicht ganz getroffen, jedenfalls legte Goebbels sechs Tage später nach: „Was ist ein Opfer?“ Anno 1942, die 6. Armee war in Stalingrad schon längst eingekesselt, half nur noch eines: „Ein Band der Liebe umschlinge uns in dieser Stunde.“ Und wer es noch nicht begriffen hatte, bekam neben Fontane („Ausdauer, das ist die Hauptsache!“) auch Hölderlin serviert: „Die Schlacht ist unser! Lebe droben, o Vaterland. Und zähle nicht die Toten. Dir ist, Liebes, nicht einer zu viel gefallen.“
Den Durchhalteparolen folgten die Verkündigungen des Kalten Krieges: Während der Einheitssozialist Otto Grotewohl 1946 „Stalin als Friedensträger“ ins milde Licht rückte und recht unmilde drohte („Niemand hat das Recht, sich von der Mitarbeit auszuschalten“), zog Adenauer, vor leicht geneigtem Gummibaum, schon bald die Gegenregister: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind!“
Sinnstiftung von oben, das brauchten die Deutschen fast das ganze Jahrhundert hindurch. Erst Roman Herzog hat sie – im zweiten Anlauf – wirklich abgeschafft. Hatte er im letzten Jahr noch von der „brennenden Wunde“ Arbeitslosigkeit gesprochen und wollte er damals noch den Ostdeutschen „den Wert der Freiheit“ beibiegen, verzichtete er diesmal auf allen politisch-ideologischen Firlefanz: Der Präsident im korrekten Nadelstreifen, spricht zu den lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern dies und das. Er wirft keinen Blick zurück, keinen Blick nach vorn. Das Utopische bleibt ihm fremd: Sind wir doch ehrlich, niemand weiß, was all die technischen und politischen Veränderungen „für ihn, für seine Kinder, seine Enkel und das ganze Volk bedeuten“. Herzog als freundlicher Interpret des Status quo, in der Ecke eine schlappe Miniausgabe der Bundesfahne, wie aus der Besenkammer herangeschafft, dazu ein subtropischer Weihnachtsstern – eher eine selbstironische Installation als die Repräsentanz der Macht.
Herzog sprach weder zu den Arbeitslosen noch von der Inneren Einheit. Kein Thema. Die Bundeswehrsoldaten in Bosnien erwähnte er mit keinem Wort. Dazu versprach er uns, daß er in Zukunft weit weniger reden werde als bisher und mehr zuhören wolle. Roman Herzog wird die Weihnachtsansprachen in den nächsten Jahren immer knapper fassen – ihre Abschaffung wird seine letzte Amtshandlung sein. Voilà, ein demokratischer Präsident. Ein Jahrhundert der Belehrung, des Wir-Zwanges und staatlicher Selbstglorifizierung wird dann zu Ende sein. Stille Nacht!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen