■ Schlagloch: Die unbekannten Gesichter des Wechsels Von Nadja Klinger
„Also wenn ich mir den so ansehe, kompetent sieht der eigentlich nicht aus. Na ja. Ich kann jetzt auch nicht sagen, wie einer aussieht, der kompetent ist.“
Ein Bürger in einer Wählerumfrage auf Radio Eins, September 1998
Bald ist es soweit. Die Zeit verlangsamt sich, mehr und mehr, es gibt nichts mehr zu tun, und die Zeiger der Uhren schlendern provokant auf den Punkt zu, der alles ist, was wir zu erwarten haben: Um sechs sind wir verabredet.
Wir sind nervös. Wir schwitzen. Im Fernsehen starrt ein Mann auf einen Monitor. Gewiß sieht er schon die Hochrechnungen. Gleich fängt er an zu heulen, oder er muß sich das Lachen verkneifen. Es sieht nach beidem aus. Und wir? Sind wir gefaßt? Vorbereitet? Oder wenigstens bei Trost? Da schlägt es sechs, und endlich ist er da: der Wechsel.
Weiter kann ich nicht denken. Niemand kann das. Es fehlt jegliche Vorstellung davon, wie so ein Wechsel aussieht.
Nun gut, wir kennen sein Gesicht. Ich habe es sogar schon einmal live gesehen. Der Wechsel hat tiefliegende Augen, die einen aus ihrem Versteck heraus beobachten, in die man jedoch schwerlich hineinsehen kann. Da die Augen an jenem Tag dasselbe gesehen haben müssen wie ich, hat Gerhard Schröder wohl dreist gelogen. „Sie und ich, wir werden das schaffen!“ rief er fünftausend Bürgern zu, die den Platz vor dem Schweriner Schloß auffüllten wie eine zähe Masse, die man, um sie überhaupt bewegen zu können, erst endlos erwärmen muß. „Dieser Tage bin ich durch Ihr Land gefahren“, fügte Schröder versöhnlerisch hinzu. Und wurde erhört. – „Da konntest du dir endlich mal ansehen, wie eine Kuh aussieht“, brüllte es von unten auf die Bühne. – „Das wußte ich schon, als du noch nicht einmal auf der Welt warst“, antwortete unser Wunschkanzler väterlich. Dann zogen sich seine Augen noch tiefer in die Höhlen zurück, seine freundliche Miene verkrampfte, das Gesicht des Wechsels verfinsterte sich: „Abgesehen davon geht es hier um Prozente, nicht um Promille.“
Es gab noch einen Abend, an dem ich den Wechsel gesehen habe. Bündnis 90/Die Grünen feierten den letzten Monat Helmut Kohl. Der Berliner Prater lief von Menschen über, die ausdauernd in einer Nichtraucherzone standen, die knapper werdende Luft miteinander teilten, damit alle hören konnten, wie Jürgen Trittin redete und Andrea Fischer Saxophon spielte. Schließlich rückten alle noch enger zusammen, um gemeinsam auf Joschka Fischer zu warten. Der kam zu spät, wie es sich für einen Popstar gehört. Der Prater bebte unter dem Jubel, und während die Inszenierung der Grünen es vorsah, daß Hunderte von Luftballons über den Köpfen der Menschen tanzen, begannen die, völlig außer Rand und Band, die Dinger zu zertreten.
Mit einem lautem Knall wird alles anders, dachte wohl auch Marianne Birthler, die Direktkandidatin der Partei in Mitte/Prenzlauer Berg, wo der Prater steht. Mit glasigen Augen schaute sie ihren rebellierenden, potentiellen Wählern zu, und die bemerkten sie nicht.
Also stieg Marianne Birthler mit aufs Podium, nach oben, wo sich Kerstin Müller, Joschka Fischer, Gunda Röstel, Andrea Fischer und Jürgen Trittin in den Armen hingen. Einen Moment lang verlor ich sie aus den Augen. „Gegen Politik hilft nur Politik“, der Spruch, mit dem die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin um Wähler wirbt, verschwand – hinter dem Wechsel. Plötzlich tauchte ihr Gesicht noch einmal im Hintergrund auf, sie hatte sich auf Zehenspitzen gestellt. Doch da, mitten im Jubel, beugte sich Gunda Röstel zu Joschka Fischer und sagte ihm etwas ins Ohr. Marianne Birthler war wie aus einer anderen Zeit. Das Bild, das sie bot, als sie hinter Fischer und Röstel wieder verschwand, war das eines noch ausstehenden Abschieds.
Abgesehen von seinem Aussehen weiß jedoch niemand, was der Wechsel denn so für einer ist. Was er von uns will. Und wie man ihn im eigenen Leben am besten unterbringt.
Niemand hat bis jetzt darüber gesprochen. Das fing schon bei den Kandidatenwahlen an. So ist eine Direktkandidatin in meinem Wahlkreis für ihre eigene Partei nur eine Notlösung. „Nur mit uns kann es einen Wechsel geben“, wirbt sie. Auch die andere Kandidatin, die in meinem Bezirk zur Wahl steht, war von ihren eigenen Leuten nicht so recht gewollt. „Ich hab' mir da irgendwie etwas anderes vorgestellt“, wandte jemand gegen sie ein. „Ich mag sie ja“, sagte ein anderer, „aber geht es diesmal nicht um mehr?“ – „Hättest ja selber kandidieren können!“ rief daraufhin jemand.
Es hat nicht nur niemand darüber gesprochen, was der Wechsel eigentlich ist, darauf kommt es gar nicht an. Viel wichtiger ist, daß der Osten ihn vermutlich versaut. Vergangene Woche haben deshalb all unsere Direktkandidaten öffentlich DDR gespielt. Sie mußten würfeln und Fragen beantworten. „Ich glaube, der hat geraten“, sagte irgendwann die Grüne zu dem CDU-Kandidaten. – „Raten reicht doch“, antwortete der, „wichtig ist, was hinten rauskommt.“
Ebenso begründen die Leute ihre Wahl: Wichtig ist, was hinten rauskommt. „Ich will den Wechsel“, sagen sie und wählen alle verschieden. Zwar hat es verschiedene Versuche gegeben, in zehn Punkten zusammenzufassen, was anders werden soll. Doch Gerhard Schröder wiederum sagt: „Es wird nicht anders.“ – „Aber vieles wird besser“, fügt er hinzu.
Vermutlich rechnet ohnehin niemand mit Unannehmlichkeiten, denn bis jetzt war doch alles so einfach, wie Regine Hildebrandt es vor dem Schweriner Schloß gezeigt hat. Mit lautstarken Worten errichtete sie vor unseren geistigen Augen drei Röhren, die sie augenblicklich mit Flüssigkeit füllte: etwas für SPD und Grüne, etwas für die CDU. Die dritte Röhre jedoch gehörte der PDS. Langsam goß die Brandenburger Arbeitsministerin mit einer Hand Flüssiges hinein, und langsam sank dabei ihre andere Hand – der Pegel einer rot- grünen Koalition – nach unten ab. Kurz hielt Regine Hildebrandt inne und blickte von der Bühne auf die fünftausend. Dann kippte sie und schüttete, die Chance auf den Wechsel sank und sank, bis es, ihrer Meinung nach, „gar nichts mehr zu lachen“ gab. Dabei lachte auch gar niemand. Es reagierte überhaupt keiner irgendwie. Warum auch? Regine Hildebrandt hatte fertig.
Ich möchte am Sonntag um sechs gern in alle Wohnzimmer gleichzeitig sehen. Alle haben dann, was sie bekommen wollten, aber niemand weiß, was er damit hat. Ich aber könnte zumindest sehen, wie viele verschiedene Gesichter der Wechsel wirklich hat. Letztlich wissen wir auch alle, wie schnell der entscheidende Moment vergeht.
Die Zeiger der Uhren rutschen auf sechs – und schon sind sie drüber weg. Der Mann am Monitor guckt nach oben in die Kamera, die Starre entfernt sich unbemerkt aus seinem Gesicht: „Der Wechsel verabschiedet sich nun von Ihnen“, sagt er freundlich. „Wir wünschen noch einen schönen Abend.“
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