■ Schlagloch: Abenteuer Konservatismus Von Mathias Greffrath
„Gewaltiges Markt-
potential“
Hartmut Mueller (Dasa)
über den kommenden
Weltraumtourismus
„Fall nicht in die Caldera“, hatte der Nachbar zum Abschied gerufen. Von wegen fallen – der Weg am Kraterrand ist gepflegt, als wäre der Alpenverein zuständig, La Palma fest in der Hand der oberen neuen Mitte. Männer mit Kartentaschen, Frauen in Leopardenleggins suchen das geordnete Abenteuer zum Jahresbeginn, ersteigen kleine Berge oder lassen sich mit dem Landrover hochfahren und quietschen, wenn in der milden Serpentine ein Wagen entgegenkommt. Die Ausrüstungsorgien – von der hochklappbaren Gletscherbrille bis zur Steadycam im Military-Look – stehen in krassem Mißverhältnis zur Harmlosigkeit der Veranstaltungen. Beim „Abstieg“ vom Mittelgebirgsgipfel Gesprächsfetzen im Gegenverkehr: „Wir können abends Schatzsuche spielen; ich habe das Spiel mitgebracht, es ist spannend...“
Abenteuer ist die letzte Marktlücke, die Nachfrage ist anthropologisch tiefsitzend und unendlich. Millionäre machen es mit dem Ballon um die Erde, Orthopäden mit dem Snowboard in Kanada, Unternehmensberater in der Eigernordwand mit Messner. Ja, und wir anderen eben auf La Palma. Die Welt ist durchgesiedelt, aber immer noch zeigen erwachsene Männer beim Abstieg durch die Caldera de Taburiente auf den phallischen Kultstein und murmeln mit glänzenden Augen: „In drei Jahren treffen wir uns hier wieder, weißer Bruder, wenn die Sonne im Zenit steht; ich werde schreien wie das Käuzchen.“
Der Mensch, zumindest der Abendländer, sucht Abenteuer, sobald er drei geworden ist und die Mutter sagte: „Und jetzt erklettern wir den Mount Everest“, auch wenn es nur der Küchentisch war. Der Abendländer will an die Grenze, will Erster sein, will das Neue. Aber das Neue hieß allenfalls zu Kolumbus Zeiten La Palma. Abenteuer ist Aufbruch, Wagnis, Vorstoß über die Ränder des Bekannten hinaus. Ein paar Jahrtausende lang hatten Reflexe und Adrenalin am Abenteuer des täglichen Lebens, an Meereswellen, Bären und anderen Hungrigen genug. Dann wurde Homo sapiens zivilisiert, baute Siedlungen und Wege durch die Wildnis, gründete Versicherungen. Aber die Unangepaßten, die Ehrgeizigen, die Zukurzgekommenen mußten triebhaft immer weiter: Eroberer, Goldjäger, Landvermesser, Kolonisatoren, Legionäre, Eisenbahnbauer. Und nun ist kein Neuland mehr da. Selbst der Krieg ist virtuell geworden, bis auf die Leichen. Die Kontinente sind entdeckt, die Pflanzen katalogisiert, die Gene vermessen. Der Himalaya ist eine GmbH mit Espressoausschank, die Nord-Süd-Passage gehört Hapag Lloyd, und Gemsen werden im Tal dressiert. Nur Spitzenleister können im Sport, in der Wissenschaft, in der Politik, in der Kunst ihren Trieb nach Grenzüberschreitungen noch stillen.
Und wir Normalos? Was kriegen wir? Der „Verlust der manuellen Aktivität und die Verwandlung des physischen Abenteuers in ein passives“ werden große Probleme stellen, schrieb der Anthropologe Leroi-Gourhan vor 35 Jahren, wenn, wegen der zunehmenden Enge und Humanität auf Erden, auch die klassischen Auswege für Unangepaßte – Piraterie, Fernhandel, Krieg, Vagabundentum – nicht mehr gesellschaftlich akzeptiert sind. Und auch mit dem Abenteuerersatz werde es immer enger. Für eine Weile könne man sich noch vorstellen, daß „Illusionsexperten“ greifbare Ersatzerregungen konzipierten, wie das „Abkochen von Konservendosen mittels Gaskochern zu ebener Erde“, das „sonntägliche Schlangestehen vor Dreißig-Meter-Felsen“ und die Jagd „nach eingeflogenen Hasen und Fasanen“, aber auch diese Ressourcen würden sich bald erschöpfen und das Grillen eines „selbstgefangenen Fischs über dem Lagerfeuer“ schon bald zum Delikt. Der einzige Ausweg, wenn das Flugbenzin zur Neige geht und der Stau auf der Snowboardpiste chronisch wird, seien dann die „Vitamingaben der Fernsehsendungen“ und das Virtuelle.
Da sind wir nun. Tief drinnen funktionieren die Reflexe noch, das weiß jeder, der schon einmal ein Bataillon von Monstern umgenietet hat oder auf der Insel MYST war. Aber dann kommt der Kater, wie nach einer Drogendröhnung. Die Nächte nach Monopoly und Kriegsspiel sind fad. Das Abenteuer-Gen will den echten Einsatz, der Hunger will wirkliches Fleisch, die Gier wirkliches Geld. Nachgetretene Wege sind keine Abenteuer, das Herumkurven mit geliehenen Kleinautos auf den steinigen Wegen einer Kanareninsel ist eher lächerlich, das merken wir daran, daß wir dabei „Brmm, brmm“ machen, wie im Laufställchen.
„Befreit von seinen Werkzeugen, seinen Gesten und Muskeln, befreit von seiner Phantasie, an deren Stelle die Perfektion des Fernsehens getreten ist“, sei Homo sapiens, „dieses veraltete Säugetier mit den archaischen Bedürfnissen“, so der Anthropologe, „am Ende“. Es sei denn, er entschlösse sich, „das Problem des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft völlig neu zu durchdenken, sich konkret der Frage nach der numerischen Dichte unserer Gesellschaft und unseres Verhältnisses zur Tier- und Pflanzenwelt zu stellen, aufzuhören, die Beherrschung des Erdballs als ein Spiel des Zufalls anzusehen“.
Darauf bestehen, die zu bleiben, die wir von Natur aus sind und von Kultur aus sein wollten – das wäre dann das letzte, das ganz große Abenteuer. Das Abenteuer, die Endlichkeit der Welt zu akzeptieren – und wieder zu erkämpfen. Das störrische Abenteuer, der eigenen Vernunft wieder zu vertrauen, die jedem einzelnen leise sagt: Ferntourismus, Klamottenfetischismus und Erlebnisgesellschaft sind Sackgassen. Das Abenteuer, uns wieder richtige Gegner zu suchen, statt luhmannesk abzuschnallen und uns mit der Komplexität herauszureden. Oder Arschlöcher – „mit Verlaub“ – wieder so zu nennen, im Betrieb und im Geschreibsel; ein paar Achttausender ins Auge fassen, als da sind: der Wiederaufbau Serbiens, eine Million Solardächer, eine kämpferische Bürgerinitiative gegen die Steuerverschiebung von Siemens und Co. Oder, wenn es bauchnäher sein soll: Mütter campen auf dem Gendarmenmarkt, bis die öffentliche Betreuung wieder klappt, pubertäre Kleingruppen erobern das Freibad, Arbeitslose besetzen Neu-Junkerland im Osten, höchstindividualisierte Großstädter gründen eine Großfamilie.
Die Neuzeit war die begeisterte Attacke auf die Erde, auf die Sinne und die Psyche, an ihrem Ende steht ein raffiniertes Netz aus Genüssen, Möglichkeiten, Erkenntnissen. Lauter Vorstöße, lauter Abenteuer. Warum schaffen wir es nicht, den Rückzug auch zu einem großen, zu vielen kleinen Abenteuern zu machen? Weil es rückwärtsgewandt ist? Nun, gerade darin läge das letzte Wagnis: im Aussteigen, im Verteidigen, in der Treue zum eignen, also echten Konservatismus, im Herzeigen der Verzweiflung, in der Schamlosigkeit des Scheiterns. Irgendwie ist das natürlich auch nichts Neues: Der erste Held der Neuzeit heißt Don Quichote.
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