Schlagloch Neoliberalismus: Sympathy for the Schnösel
Er hält sich für das Mitglied einer Klasse, die ihn ausbeutet und verhöhnt. Dabei gehört der Schnösel zur Reservearmee des Neoliberalismus.
J ede Bewegung, jede Partei, jede ideologische Kultur hat ihren Nachwuchsbereich. Das gilt auch für den Neoliberalismus. Er funktioniert im Mikrobereich der ökonomisierten Macht durch etwas, das wir die prekäre Herrschaft der Schnösel oder kurz Schnöselokratie nennen könnten. Schnösel sind die Türsteher und Straßenjungs des Neoliberalismus, die Laufburschen und Schaufensterpuppen, die Propagandisten und Prostituierten.
Der Begriff Schnösel entstand wohl im 19. Jahrhundert aus dem Wortbereich Schnodder oder schnäuzen und beschreibt erst einmal etwas der „Rotznase“ vergleichbares, bevor es sich, vielleicht mit einem Zwischenschritt von „altklug“ und „besserwisserisch“, in Richtung der Bedeutung von „junger, eingebildeter und eben rotzfrecher Mensch“ entwickelte.
Im 20. Jahrhundert eroberte die Schnösel-Zuschreibung auch die Erwachsenenwelt. Es blieb indes in aller Vorstellung vom Eingebildeten, Ignoranten, Stutzerhaften und Anmaßenden auch etwas von „unreif“. Der Schnösel wurde zum Typus in Komödien, Operetten, Filmen und Karikaturen; das Happyend, wenn es für ihn eins gab, lag darin, dass er, etwa durch die Liebe, von seiner Schnöseligkeit kuriert wurde (wie der junge Heinz Rühmann in seinen frühen Filmen).
Georg Seeßlen ist freier Autor und hat bereits über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. In diesem Jahr erscheint von ihm „Kunst frisst Geld. Geld frisst Kunst“, gemeinsam mit Markus Metz verfasst (Suhrkamp). Er lebt auch in Italien.
Der Schnösel war zunächst ein Kind aus privilegiertem Haus, das sich gegen seine Umwelt arrogant und egozentrisch benehmen durfte, ohne dass er dadurch soziale Nachteile zu gewärtigen hatte. Ein Gewinner-Attribut, das freilich schon zuerst die Abwertung und dann auch den Abstieg beinhaltete, denn der Schnösel ist in der Regel nicht mehr in der Lage, das ererbte Unternehmen zu führen; der Schnösel macht kaputt, was seine Vorgänger aufgebaut haben.
Es gibt in jeder Klasse, auch in der bäuerlichen, auch in der proletarischen eine je eigene Form von Schnöseln, doch zum Rollenmodell, zugleich Problem und Ideal, wird der Schnösel erst im Bürgertum. Der Schnösel drückt die ganze Widersprüchlichkeit dieser Klasse aus. Deshalb spielt er in ihrer Mythologie eine Schlüsselrolle. Doch erst in einer Mediengesellschaft kann der Schnösel von einem Rand- und Krisensymptom zu einem zentralen Lebensmodell werden.
Ein betrogener Betrüger
Interessanterweise taucht der Schnösel an signifikanten Stellen der Klassenbeziehungen auf. Im 19. Jahrhundert etwa ist er in den Komödien der Kleinbürger, der sich zum Groß-, Besitz- und Bildungsbürger aufplustert, und im 20. Jahrhundert, nun vor allem als Film-Figur, der „entwurzelte“ Aufsteiger, der sich wunders was auf sich einbildet, indem er jede Modetorheit mitmacht. Und am Ende als betrogener Betrüger dasteht.
Der Schnösel des Jahres 2014 verhält sich nicht viel anders. Er hält sich selbst für das Mitglied einer Klasse, die ihn in Wirklichkeit ausbeutet, wenn nicht gar verhöhnt, er macht bedingungslos jede Mode mit, die ihm verspricht, dazuzugehören, vielleicht sogar vornedran zu sein. Er erfüllt die Ideologie, an die die wirklichen Gewinner seines Systems kein bisschen glauben, mit manchmal fanatischem Ernst. Daher ist der Schnösel bereit, die ideologische Drecksarbeit zu leisten. Es ist der Schnösel, der Verachtung und Ignoranz offensiv zur Schau stellt.
Freiheit, Neuheit und Party
Der Schnösel glaubt fest an den Markt, an die Freiheit, an den Erfolg, an die Leistung, an den Optimismus, an den Fortschritt, an die erlösende Kraft von Markenartikeln. Seine drei Säulen sind Freiheit, Neuheit und Party. Vom Partymachen ist der Schnösel so besessen, dass er jede Party ruiniert, weil er aus ihr eine Feier der Selbstbestätigung macht. Wie bei den meisten Menschenarten werden auch die Schnösel erst unwirklich erträglich, wenn sie in Gruppen auftreten, in denen sie sich zu überschnöseln trachten.
Gewiss gibt es auch den weiblichen Schnösel. Allerdings scheint er nicht auf die gleiche Weise uniformiert und auf Anhieb erkennbar. Auch der weibliche Schnösel zeigt vergleichsweise aggressiv die Zeichen der Eitelkeit und Selbstinszenierung: Frisuren, die verzweifelt versuchen, zugleich modisch und für den harten Aufstiegskampf betoniert zu sein, Kostüme, die sexy sein und zugleich als Kampfanzüge für den immerwährenden Wettbewerb dienen sollen, ein Lächeln, das vor allem Biss verrät.
Vielleicht ist Ursula von der Leyen die Mutter aller weiblichen Schnösel oder die Dame von den Börsennachrichten. Auf jeden Fall kommen auch hier die Vor-Bilder vorzugsweise von amerikanischen Serien. Business Girls und Media Chicks.
Individualschnösel und AfD
Der Schnösel, keine Frage, ist sozial abgestiegen. Es ist die Reservearmee des Neoliberalismus. Dabei könnte man den Schnösel durchaus als ein Auslaufmodell sehen, eines, das endgültig in den Status der Selbstparodie umgekippt ist. Der Schnösel würde gewissermaßen der FDP entsprechen.
Beide, die jungen Individualschnösel und die FDP, schaden dem System mehr als sie ihm nutzen, wenn sie es, während sie es propagieren zugleich entlarven. Doch ist der Schnösel selber flexibel genug, um notfalls militantere Positionen zu finden. Für den Schnösel in der Krise ist die AfD eine neue politische Heimat, man sieht im Nachbarland massenweise Schnösel in den Reihen des Front National. Die Schnösel-Mehrheit aber gibt sich – noch – betont unpolitisch.
Das Kind der Reichen
War der Schnösel einst das Kind der Reichen, das in Arroganz und narzisstischem Wahn die soziale Legitimation von Familie und Klasse verspielte, wurde er dann zum Sinnbild eines vom Kapitalismus zugleich hofierten und verratenen Bürgers.
So ist der Schnösel nun auch am unteren Ende des sozialen Spektrums angelangt: Der Schnösel, der seine Ignoranz und Arroganz gegen die soziale Abwertung setzt, aber keine eigene „Leistung“ zu erbringen bereit ist, auch einer, der den Tag vor dem Fernseher verbringt und mit dem SUV zur Lebensmittelabholung bei der „Tafel“ fährt. Erbarmen!
Wir, die wir unter der Schnöselokratie tagein und tagaus leiden müssen, wir, die wir Opfer der Mitleidlosigkeit des Schnösels sind, müssen mit ihm tiefes Mitleid empfinden. Denn auch der Neoliberalismus frisst am liebsten seine Kinder. Die Schnösel.
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