Schlagloch Erster Weltkrieg: Zerwühlte Erde, sonst nichts
Damals, kurz nach 14/18: Über einen Film, der mehr sagt als die kiloschweren Neuinterpretationen der „Urkatastrophe des Jahrhunderts“.
A uch wenn der Overkill der Sonderbeilagen sich lange vor dem 1. August erschöpft hat – hier noch ein Beitrag zum Jubiläum über einen Film, der mehr berührt als all die Fotos über Gräben, Bajonette und Stacheldraht: Der Film heisst „En dirigeable sur les champs de bataille“.
Es ist ein stiller Film, kein Poilu und kein General kommen in ihm vor, er kommt ganz ohne Leichen und Worte aus. Er ist sehr leicht, fast heiter. Und unendlich traurig. Er zeigt eine lange Fahrt mit dem Luftschiff über die Westfront, von Dünkirchen bis nach Verdun, 1919 gefilmt, als das Töten ein Ende hatte.
Rostende Panzer auf dem Chemin des Dames; Schlammwüsten, wo gelebt und geerntet wurde; Granatenkrater, mit Wasser gefüllt, kilometerlang die Zickzackschnitte der Gräben, das tote Holz der Wälder – und die Städte. Menschen schauen zu dem Zeppelin hoch, winken, und der Pilot winkt zurück.
geboren 1945, ist freier Autor für Print und Hörfunk und lebt in Berlin. Zurzeit entdeckt er bei seinen Recherchen in Verdun und im Argonnerwald die Vorzüge nicht hybrid gezüchteter Hähnchen. Jean-Améry-Preis 1988.
Von „En dirigeable sur les champs de bataille (1919)“ gibt es zwei Kopien. Eine Kopie ist im Musée Alfred Kahn, eine in der Mediathek ECPAD des französischen Verteidigungsministeriums. Bei beiden kann man kann sich eine DVD bestellen.
Unten liegt das vier Jahre beschossene Ypern, die Wände der Kathedrale durchlöchert, von den Häusern nicht einmal mehr Grundmauern, nur noch Kellerlöcher. Auf den Straßen haben Händler ihre Stände aufgestellt, Läden gibt es nicht mehr. Nicht weit davon Passchendaele, das Sanctuarium der Engländer, das Dorf, in dem die letzte Offensive der Reichswehr im Jahre 1918 verblutete: zerwühlte Erde, sonst nichts.
Ein Film der Stunde null
Irgendwo da unten, bei Passchendaele, wurde im August 1916 das Regiment aufgerieben, zu dem mein Großvater gehörte, er hat es überlebt, mit Splittern in Arm und Bein und Schulter. Aber nicht deshalb hat mich dieser Film so berührt, sondern weil er eine Momentaufnahme der Stunde null zeigt, die in den historischen Periodisierungen zur interessierten Abstraktion gefriert.
![](https://taz.de/picture/115189/14/ww1_01.jpeg)
Nicht Gewalt ist zu sehen, nur ihre Spuren, aber fast körperlich spürte ich für einen Moment: den Frieden. Er leuchtet kurz auf in diesem verhaltenen, leicht traurigen Lächeln, mit dem der Pilot sich zum Kameramann umdreht, in dieser knappen Geste, mit der er aus der offenen Gondel den Menschen auf den staubigen Plätzen zuwinkt, die inmitten der Fassaden ohne Häuser in der Sommersonne stehen, reden und nach oben schauen, von wo keine Granaten mehr kommen: Ich stelle mir vor, auch sie lächeln, mit einem Ausdruck, für den Freude ein zu kleines Wort wäre und Erlösung ein zu großes. Frieden, das ist nicht vor dem Krieg, sondern wenn der Kampf zu Ende ist.
Der Kameramann heißt Lucien Le Saint, auf die Reise geschickt vom Bankier Albert Kahn, dem 1860 geborenen Sohn eines jüdischen Viehhändlers aus dem Elsass, der in Paris eine Banklehre begann und abends Philosophie und Jura studierte (Henri Bergson war sein Mentor).
Mit 32 wird Kahn Teilhaber eines großen Bankhauses und sehr schnell einer der reichsten Männer Frankreichs. Er nutzt sein Vermögen, um zehn Kameramänner und eine Kamerafrau erst durch Europa und dann um die Welt zu schicken. Sie machen die ersten Farbfotos im neuen Autochromverfahren, das die Brüder Lumière 1907 auf den Markt gebracht haben; Kahn will ein „Archiv des Planeten“ schaffen, eine fotografische Enzyklopädie vom Alltag aller Völker dieser Welt. 72.000 Farbfotos lagern in seinen Archiven, sie zeigen eine Welt, wie sie vor dem Krieg war; sie zeigen spielende Kinder in den Ruinen von Reims.
Die Macht der Bilder
Kahn glaubt, dass die Völker und ihre Eliten friedlich werden, wenn sie mehr über einander wissen; er glaubt an die Macht der Bilder. Von ihm selbst gibt es nur wenige. Eines, 1914 aufgenommen, zeigt ihn auf dem Balkon vor seinem Büro: ein kleiner, etwas gedrungener Mann mit Glatze, im Anzug mit Weste und einem Spitzbart, schaut die Straße entlang, die Stirn in Falten, als fixiere er eine Bedrohung in der Ferne.
Kahn ist nicht nur kamera-, auch publizitätsscheu, tritt nicht öffentlich auf, legt aber ein luxuriöses Stipendienprogramm auf, das junge Begabte ein Jahr um die Welt schickt: Sie sollen reisen, wohin sie wollen, hinsehen, hinhören, Kontakte knüpfen. In seinem Park in Boulogne-Billancourt empfängt er seit 1916 jeden Sonntag aufgeklärte Gäste aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Industrie: Albert Einstein kommt, H. G. Wells, Husserl, Marie Curie, Thomas Mann, Rabindranath Tagore, Wilson, Briand, Stresemann; in seinem japanischen Pavillon reden sie, spazieren, schauen Filme an. Vielleicht auch den von Lucien Le Saint. In der Weltwirtschaftskrise verliert Albert Kahn sein Vermögen, 1940 stirbt er verarmt im besetzten Paris.
Das alles klingt so märchenhaft, dass der Autor Michael Kleeberg es in seinem Roman „Ein Garten im Norden“ nach Deutschland transponiert hat: Ein Traum von einem Jahrhundert, in dem der Krieg nicht ausbricht, weil die Mächtigen und die Musischen sich auf Einladung eines Bankiers treffen, in einem kleinen Park, dort, wo jetzt das Holocaust-Mahnmal liegt.
Als Kulturstaatsminister Naumann diese Legende eines anderen Jahrhunderts vor gut zehn Jahren deutschen Privatbankern im Schloss Niederschönhausen vortrug, nicht ohne programmatisches Pathos, lächelten die Banker. Es war ein anderes Lächeln als das des Luftschiffpiloten. Der hieß Jacques Trolley de Prévaux, kam aus dem Hochadel, wurde später Admiral und 1944 in Lyon zusammen mit seiner Frau von der SS erschossen; ihr Widerstandsnetz hatte den Alliierten entscheidende Informationen über die Befestigungen am Atlantik zugespielt.
Das kommende Schloss
Das Jubiläumsjahr der „Urkatastrophe“ wird in England und Frankreich als großes patriotisches Fest gefeiert – die britische Regierung lässt es sich 60 Millionen Euro kosten. Unsere wusste nicht so recht, was und wie „wir“ da feiern könnten, und veranschlagte nur viereinhalb.
Aber da es nun schon einmal so märchenhaft zugeht in dieser Kolumne, stelle ich mir vor, sie würde auf hundertzwanzig aufstocken – und in Berlin einen Garten wie den von Monsieur Kahn aufblühen lassen, mitsamt den Stipendien und intimen Gesprächen, in denen die Eliten sich zwanglos zur Verhinderung der kommenden Urkatastrophen verabreden. Vielleicht könnte man ja sogar das neue preußische Schloss entsprechend umplanen.
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