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Schlaftablette als Muntermacher

Nach ihrem Remis in der langweiligen 21. Partie der Schach-WM begannen Karpow und Kasparow lebhaft zu diskutieren/ Kasparow führt 11,5:9,5 und benötigt nur noch ein Unentschieden  ■ Aus Lyon Stefan Löffler

Ob Anatoli Karpow von den Gerüchten gehört hat, der Titelverteidiger Garri Kasparow habe mit seinem Team die ganze Nacht analysiert? Die Fortsetzung der 21. Partie wurde am Donnerstag abend jedenfalls eine einzige Schlaftablette. Nicht nur die Zuschauer wurden gähnend erwischt. Auch Kasparows sperrangelweit offener Mund war auf den Monitoren beidseits der Bühne zu sehen.

Dabei hatte sich beim Abbruch am Vorabend keiner der Meister in den Analysesälen aus dem Stand eine Prognose getraut. Zu viele Möglichkeiten waren drin, und die Stellung war alles andere als einfach. Besonders viel Arbeit hatte Kasparow, der mindestens vier gefährliche Wege für die weißen Figuren durchpauken mußte. Karpow wußte wenigstens seinen versiegelt abgegebenen Zug, der sich allerdings nicht als der aussichtsreichste entpuppen sollte, und durfte ein wenig länger schlafen.

Mit seinem Abgabezug mußte Karpow leben und entschied sich für eine Doppelstrategie: Karpow gilt als Meister der Zugwiederholungen, ein Schritt vor und denselben zurück, zumindest solange der Gegner mitmachen muß. Effekt: die Spieler sind zwei Züge näher an die Zeitkontrolle gerückt, ohne lange nachdenken zu müssen. Und da die Bedenkzeit Anatoli immer, wenn er gegen Garri antreten muß, große Sorgen bereitet, macht er gerne davon Gebrauch. Exzessiver Nutzung beugt aber das Reglement vor: wiederholt sich eine Stellung zum drittenmal, kann Remis reklamiert werden.

Sein zweiter Gewinnversuch war, einfach nicht Remis anzubieten. Selbst als die Position nach allgemeiner Ansicht längst „tot“ war, gurkte Karpow seine wenigen verbliebenen Klötze noch über die 64 Felder. Seine Promillechance zum Sieg war, daß Garri erschöpft vom Stuhl kippte. Nach einem Neundreiviertelstundenmarathon einigten sich die beiden dann vorweihnachtlich-friedlich.

Und wenn in anderen Sportarten alles gelaufen ist, kehrt beim Schach oft noch Leben ein. Post mortem sprachen Karpow und Kasparow mehr als eine halbe Stunde lang über die Partie. Umringt von den drei Schiedsrichtern, von Fotografen und Journalisten, suchten die offensichtlich gar nicht so verfeindeten Kontrahenten nach besseren Zügen.

Karpow wollte nicht glauben, daß es keinen Gewinnweg für ihn gab. Immer wieder erwies sich aber Kasparows Zeigefinger als stärker. Der Weltmeister brauchte meist nur auf ein Feld zu zeigen, und ein weiterer Versuch war abgehakt. Doch hin und wieder mußte er die Figuren auch blitzschnell wieder in die Ausgangsstellung der Variante zurückbringen und einen neuen Anlauf zur Verteidigung nehmen, während der Herausforderer im Gegensatz zu ihm ganz ruhig am Brett saß. Wie in den Partien spielte Karpows rechte Hand verträumt vor seinem Gesicht herum. Nur der Zeigefinger unterstrich gelegentlich seine Worte.

Im fast tausend Plätze fassenden Spielsaal herrschte andächtige Stille, obwohl nur die wenigsten der etwa hundert verbliebenen Zuschauer die russisch geführte Konversation verstehen konnten. Nach den beiden vorhergehenden Partien hatten sie die Absperrungen noch kurzerhand gestürmt und sich rund um die Bühne versammelt, am Ende der langweiligen Hängepartie-Fortsetzung am Donnerstag abend waren jedoch einfach zu wenig Fans übrig, um die nötige Power dazu aufzubringen.

Irgendwann bricht Kasparow schließlich ab, endlich Applaus. Wie groß wird er sein, wenn Garri Kasparow möglicherweise schon heute abend mit einem Remis oder einem Sieg seinen Titel verteidigt?

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