Schirm und Chiffre: It's a long way to Schlümpfetechno
■ Das Berliner Zine „artefakt“ kümmert sich um die Ränder von Industrial und Experimentalmusik
Als Punk die Revolte in den Zeichensystemen inszenierte, entwickelte sich neben Lederjacke und T-Shirt auch das Fanzine zum beliebten Medium. Damals empfahlen die Theoretiker der Bewegung, die mit Schere, Klebstoff und Kopierer billig hergestellten und möglichst unverschämten Machwerke doch möglichst an Orten zu verteilen, die der Normalbürger gern frequentiert: an Bushaltestellen und in Zahnarztpraxen zum Beispiel. Zu den diesjährigen Chaostagen war auch das deutschsprachige Fanzine endgültig im Internet angekommen, dem größten Wartezimmerzeitschriftenwühltisch der Welt.
Im Gegensatz zum eher flüchtigen Charakter solcher E-Zines lassen sich kulturell hochgeladene Gegenstände wie zum Beispiel Xeroxkopien allerdings ganz gut zu Hause auf den Küchentisch legen. Zu jener Klasse von zwar altmodischen, aber praktischen Dingen gehört die erste Ausgabe des Berliner Zines artefakt, auch wenn es dann doch von einer handelsüblichen Textverarbeitung auf einem 286er erstellt wurde. Inhaltlich bewegt man sich innerhalb bewährter Fanzine-Traditionen und widmet sich mehr oder weniger abseitiger, zum Teil elektronisch hergestellter Musik. Darunter ausführliche Interviews mit Scanner, Zoviet France und dem unvermeidlichen Genesis P. Orridge.
Der ziert dann auch ziemlich sektenführerjesusmäßig das Cover, was einem den Mann nach all den Jahren doch noch unsympathisch gemacht hätte, wäre der „Transmediator“ zu seiner diesjährigen Spoken Word Tour nicht kurzhaarig und im klassischen Dandy-Outfit erschienen. P. Orridge, der Mitte der Siebziger als Teil von Throbbing Gristle zum Miterfinder von Industrial Music avancierte, wird noch heute gern als einer der Gründerväter der europäischen Traditionslinie von Techno betrachtet. Auch wenn von der Parole der Gristles – „Entertainment thru pain“ – und ihren nervenaufreibenden Synthesizergeräuschen bis zu Schlümpfetechno ein weiter Weg gegangen werden mußte.
Techno 96 bezeichnet der Meister dann auch als die „ultimative Lobotomie der Jugendkultur“. Plattenauflegen sei nur als Lernprozeß mit unerwarteten Ergebnissen interessant, danach könnten genausogut dressierte Schimpansen die Arbeit übernehmen.
Auch die HerausgeberInnen von artefakt, Annibale Picicci und Angelika Teschner, ziehen das Musikhören dem Dancefloor vor und interessieren sich für Techno nur als Fortführung radikaler Klangexperimente. Unter diese Kategorie fällt dann etwa der bereits erwähnte Scanner, der mit ebensolchem Gerät aus der Elektroabteilung des nächsten Kaufhauses Mobilfunktelefonate unbescholtener Bürger aufnimmt, um die intimen Gespräche in seine Musik einzubauen.
Neben Scanner sind Microstoria allerdings die wenigen Ausnahmen in artefakts ab jetzt halbjährlich erscheinender Obskuritätensammlung, die mit und in den Schnittstellen, in denen Technologie wirksam wird, arbeiten. Der Rest ist irgendwo an den Rändern von Industrial und Experimentalmusik situiert. An jenen Orten also, die ansonsten ignoriert oder dem Teeniemagazin Zillo überlassen werden müßten und offensichtlich eine Marktlücke darstellen: artefakts erste Auflage ist nach zwei Wochen beinahe ausverkauft.
Bleibt also nur noch die entscheidende Frage, warum man ein Fanzine auf Papier druckt, wenn man übers Netz die ganze Welt erreichen könnte? Herausgeber Picicci hat dafür eine auf den ersten Blick banale, am Ende aber womöglich fundamental richtige Begründung: Das alles sei erstens viel zu teuer und zweitens habe er sein Password längst wieder vergessen. Ulrich Gutmair
„artefakt“. Fax/Tel.: 6217166 oder im Staalplaat-Club, Prater, Kastanienallee 7-9, 4 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen