Schirm & Chiffre: Lesen wird zur Handarbeit
■ Medien in Berlin: Nachbereitende Überlegungen zum Softmoderne-Festival und Hypertexten
Unlängst war Robert Coover in der Stadt. Er kam, um einem kleinen, aber aufgeschlossenen Publikum etwas über „Hyperfiction“ zu erzählen. Dazu erschien uns der Homme de lettre als dämonische Silhouette vor einem ins Riesenhafte projizierten Computer-Bildschirm. Etwas abseits saß ein junger Mann, der auf Zuruf das dazugehörige Terminal bediente. Den Schreibboy hatte der Meister eigens zu diesem Behufe aus Amerika mitgebracht.
Nun also klickte, scrollte und typte der Adlatus, was das Zeug hielt. Und das staunende Publikum verfolgte das Ergebnis seiner Anstrengungen auf der Projektionswand. Soviel zum äußeren „setting“. Was zum Teufel aber ist ein Hypertext? – Der Professor blieb uns nichts schuldig. Hypertext, das ist per definitionem „eine neue narrative Kunstform“, welche nur auf einem Computer geschrieben und gelesen werden kann. Mittels geeigneter Software werden einem Text dabei besondere interaktive Eigenschaften verliehen: Anstatt wie bei einem Buch Seite für Seite zu lesen, springen die LeserInnen über spezielle „links“ von einem Element zum anderen.
Ein Mini-Hypertext könnte zum Beispiel mit dem Satz beginnen: „Unlängst war Robert Coover in der Stadt.“ Ein Mausklick auf das Wort „Coover“ würde ein weiteres Textelement auf den Schirm holen, sagen wir mal: „Sein letzter Roman ,Pinocchio in Venice‘ hatte ihm zu Weltruhm verholfen.“
Klickten wir dagegen auf „Stadt“, so erschiene: „Es war einer dieser verhangenen Nachmittage, wie es sie nur in Berlin gab.“ Ein Klick auf „unlängst“, und wir läsen: „Genau 50 Jahre zuvor war die Schäferhündin Blondi von ihrem Herrn mit einer Zyan-Kapsel vergiftet worden.“
Jedes dieser neuen Textelemente hätte natürlich seinerseits wieder „links“, die zu anderen Elementen führten, so daß sich der ganze Hypertext letztlich als ein vielfach miteinander vernetztes System von Textpassagen darstellte, das auf hundert verschiedene Weisen gelesen werden kann. So öffneten sich auf Coovers Demonstrations-Desktop denn auch unaufhörlich Fenster über Fenster. Ungezählte Pfeile zogen über den Bildschirm, einzig und allein, damit Sätze sich miteinander verzweigten und Geschichten ineinander verschachtelten.
Hypertexte können natürlich auch von mehreren geschrieben werden: Das von Coover mit initiierte „Hypertext-Hotel“ ist eine Art kollektives Dichterprojekt, das allgemein zugänglich im Internet oszilliert. Wobei die Demokratisierung gelegentlich zu Ungereimtheiten führt: Schon nach kurzer Zeit gab es in dem Etablissement einen Überschuß an Barkeeper-Beschreibungen. Dieses Problem konnte jedoch einstweilen durch die Erfindung einer hoteleigenen Barkeeper- Gebärstation gelöst wurde. Soviel zu den Anekdoten.
Später am Abend würde jemand sagen, daß das Gutenbergsche Zeitalter der Linearität derzeit von dem der Vernetzung abgelöst werde. Der ebenfalls anwesende Friedrich Kittler würde anmerken, daß die prinzipielle Abstraktheit von Text auch durch das Angebot von Optionen nicht plastischer werde.
Vorher jedoch beendete Robert Coover seinen Vortrag. Im aufkommenden Applaus deutete er eine Verbeugung an. Und der Schreibboy ließ erschöpft die Maus fallen. Martin Muser
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