Schirm & Chiffre: Wie im wirklichen Leben
■ Medien in Berlin: Das Internet-Café im HdKdW
Die Forderung nach Girokonten für alle gilt in einer demokratischen Gesellschaft als selbstverständlich. Und im Zuge der zunehmenden Digitalisierung des Transports von Nachrichten, Bildern, Klängen und Geld, verbindet sich der Anspruch auf Zugang zu den universalen Codes unmittelbar mit dem zu den elektronischen Netzen.
Das Haus der Kulturen der Welt hat parallel zu Christos Reichstags-Wrapping – und zunächst nur für die Dauer dieser Aktion – ein Internet-Café eingerichtet, das dieser Forderung entgegenkommt. Und es ist so erfolgreich, daß das Projekt um einige Wochen verlängert wurde. Sein Name ist Programm: X-Ess steht für access, also Zugang zum multimedialen Universum des World Wide Web (WWW).
Aufgrund seiner graphischen Benutzeroberfläche ist das WWW ein einfach zu bedienendes Werkzeug, das den potentiellen User an seiner Neugier packt (Was passiert, wenn ich diesen Knopf drücke?) und in seiner Vielfalt überzeugend ist. Einige Millionen Nutzer und Anbieter bauen täglich neue Seiten und Verbindungen auf. Vor den zwölf Terminals im Foyer des HdKdW, die über schnelle und relativ absturzsichere ISDN- Verbindungen ans Netz angeschlossen sind, sitzen dann auch Menschen jeder Altersstufe – womit der Beweis erbracht wäre, daß Computer, wenn sie vernetzt und in einer ansprechenden Atmosphäre installiert sind, für jeden interessant werden.
Kein Wunder, im World Wide Web findet sich alles, was es im wirklichen Leben auch gibt, neben der IBM-Homepage liegt dank der dezentralen Struktur des Internet gleichberechtigt eine digitale Protestpostkarte an Chirac, die aufs Abschicken wartet, oder ein Traktat wider den Fleischkonsum. Zwei Mädchen interessieren sich für die Simpsons, lassen sich die TV-Familie ausdrucken und haben damit Glück gehabt, denn die Betreuer haben es eigentlich schon aufgegeben, den Drucker mit Papiernachschub zu versorgen, nachdem in den ersten Tagen von den Besuchern riesige Mengen von Informationen geprintet worden waren.
Die digitale Revolution steht erst am Anfang, und wir scheinen dem gedruckten Papier immer noch mehr zu vertrauen als flüchtigen Informationen auf flimmernden Bildschirmen. Zumal die meisten Netsurfer vermutlich zu Hause über keinen Zugang zum Netz verfügen. Über 45.000 Besucher haben das Café im Rahmen des Global Village Market seit Anfang Juli besucht. Grund genug, das Projekt zu verlängern. Die Sponsoren Hewlett Packard, EUnet und Ikea gaben ihr Okay, und X-Ess bleibt bis zum 10. September geöffnet.
Die „Datenautobahn“ – so widersinnig und dröge der Begriff und die Vorstellung dahinter auch sein mögen – scheint für deutsche Politiker einen gewissen Glamour zu besitzen, man spricht von ihr üblicherweise in einem Atemzug mit der „Multimedia-Revolution“. Subventionierte Pilotprojekte beinhalten spektakuläre Anwendungen wie Video On Demand und Homeshopping, deren „Interaktivität“ sich darauf beschränkt, dem Nutzer die Wahl zwischen Kaufen oder Nichtkaufen zu lassen, was allerdings auch im Interesse der federführenden Medienkonzerne liegt.
Das Café X-Ess kann weder mit dem einen noch mit dem anderen aufwarten, bietet aber freien und kostenlosen Zugang zum größten elektronischen Kommunikationsnetz und Informationspool der Welt. Das ist die real existierende „Datenautobahn“. Die Millionen, die in besagte Pilotprojekte gepumpt werden, wären – in Internet- Cafés investiert – ein wirklich sinnvoller Beitrag zur elektronisch vernetzten Gesellschaft. Auf die bereits angekündigte und jetzt verschobene Versteigerung der Möbel des Cafés im HdKdW können wir dann gerne ganz verzichten. Ulrich Gutmair
Bis 10.9., Di-So, 14-22 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John- Foster-Dulles-Allee 19, Tiergarten.
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