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Schicksal Dorit Rabinyans jüdisch-palästinensische Liebesgeschichte „Wir sehen uns am Meer“ durfte in Israel nicht Schullektüre werden. Dabei sei ihr Roman durchaus patriotisch, sagt die AutorinDie Liebe ist keine Option: Julia und Romeo in der Diaspora

Zunächst scheint alles auf­regend einfach, als die beiden sich begegnen: Liat, eine Übersetzerin aus Tel Aviv, die für ein Jahr mit einem Stipendium in New York lebt, trifft Chilmi, einen unwiderstehlich charmanten jungen Mann aus dem Westjordanland, der eigentlich Künstler ist, aber zunächst, so lange der Erfolg auf sich warten lässt, als Arabischlehrer arbeitet. Auf einen anregend verlaufenen Abend folgt eine erste Liebesnacht. Es bleibt nicht die einzige. Und auch wenn Liat sich noch so sehr einreden mag, dass das alles völlig normal sei, eine Großstadtaffäre halt, die irgendwann wieder vorbei sein werde, so weiß sie doch, dass das ganz und gar nicht stimmt. Dass sie sich ernsthaft verliebt hat in einen Palästinenser, dessen fortdauernde Existenz in ihrem Leben sie in den Telefonaten mit der Mutter zu Hause sorgfältig geheim hält.

Dorit Rabinyan, die als Tochter aus dem Iran geflüchteter Juden in Israel geboren wurde (ein autobiografisches Detail, das sie auf ihre Romanfigur Liat übertragen hat), ist im Land eine durchaus etablierte Autorin. Ihre ersten beiden Romane wurden mit Preisen ausgezeichnet und vom Bildungsministerium auf die Lektürelisten weiterführender Schulen aufgenommen. Auch diesen, Rabinyans dritten Roman, hatte eine Expertenkommission zur Aufnahme empfohlen. Das Bildungsministerium, aktuell geleitet von Naftali Bennett, prominentem Vertreter der nationalreligiösen Partei „Jüdisches Haus“, lehnte den Roman jedoch ab, was einen Sturm der Entrüstung in der kritischen Öffentlichkeit nach sich zog.

Mit literarischen Kriterien hatte die Debatte natürlich nichts zu tun. Rabinyans Roman ist ordentlich geschrieben – soweit sich das bei Lektüre einer Übersetzung sagen lässt – und die Charaktere differenziert genug entwickelt, um dem Ganzen literarischen Charakter zuzusprechen. Interessant, auch oder gerade für eine Lektüre von außerhalb des israelisch-palästinensischen Konflikts, aber wird das Buch vor allem durch seine ambivalente Haltung seiner eigenen Fabel gegenüber. Was zunächst aussehen mag wie eine klassische Romeo-und-Julia-Story, demontiert sich nämlich fast von Beginn an gleichzeitig offensiv selbst.

Zunächst durchläuft die Beziehung zwischen Liat und Chilmi klassische Stadien. Auf die Phase der Euphorie folgt die Etablierung der Beziehung, dann stellen sich erste Krisen ein: Chilmi, der endlich etliche Bilder verkauft und der Kunst zuliebe seinen bisherigen Brotjob aufgibt, gerät in eine Phase fast hysterischer Hypersensibilität und Betriebsamkeit, wird von Liat jedoch umsorgt und gestützt. Doch das Glück kann nicht von Dauer sein. Immer wieder thematisiert Liat, die über weiteste Strecken als Ich-Erzählerin fungiert, im Erzählerkommentar die absolut unbestreitbare Zukunftslosigkeit ihrer Liebe. Beide wissen, dass sie sich nicht mehr sehen können, wenn sie in die Heimat zurückkehren. Schließlich lässt Rabinyan den Roman auf eine Weise enden, die es den Figuren abnimmt, selbst eine Entscheidung über ihr Schicksal zu treffen.

Niemals, an keiner Stelle, stellt die Ich-Erzählerin in Frage, was von ihr erwartet wird: nach Israel zurückzugehen, einen jüdischen Mann zu finden und eine israelische Familie zu gründen. Alles andere ist keine Option. Die amerikanischen Freunde haben dafür kein Verständnis: „Wie könnt ihr euch dermaßen lieben und dabei die ganze Zeit wissen, dass es bald vorbei sein wird“, sagt die beste Freundin Joy zu Liat. „Hilflos hebe ich die Hände: ‚So ist es eben!‘“

Dorit Rabinyan selbst erklärte, sie habe mit „Wir sehen uns am Meer“ einen patriotischen Roman geschrieben. Das stimmt zweifellos. Was könnte patriotischer sein als eine Romanheldin, die so selbstverständlich auf die Liebe ihres Lebens verzichtet, um den Erwartungen ihrer Familie und ihres Volkes zu genügen? Eigentlich müsste Naftali Bennett sich über ein solches Ausmaß an Heimatliebe eher freuen. Aber vielleicht störte sich das Ministerium auch schlicht an der unverblümten literarischen Darstellung von außerehelichem, zudem noch jüdisch-arabischem Sex.

Die Missachtung durch Bennetts Ministerium hat Rabinyans Roman übrigens nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Die Berichterstattung in den Medien über die umstrittene politische Entscheidung führte dazu, dass das Buch im Handumdrehen zum Bestseller wurde. Auf diese Weise dürften es sogar deutlich mehr Jugendliche gelesen haben. Katharina Granzin

Dorit Rabinyan: „Wir sehen uns am Meer“. Aus dem Hebräischen von Helene Seidler. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 384 S., 19,99 Euro

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