: Scherben
■ Tanztheater „Kassandra II“: bunt
Was paßt nicht alles in 70 Minuten! Hermetische Bilder und ironische Brechungen, isolierte Bewegungsfolgen und fragmentarische Texte, Diaprojektionen und ein Musikmischmasch quer durch alle Stile; irre Kostüme und wilde Masken und lustige Einfälle und – gelegentlich – stille Momente. Das alles gibt es seit Mittwoch in Kassandra II zu sehen, einem „multimedialen Tanz- und Theaterabend“ von Rotraut de Neve und Heidrun Vielhauer. Leider aber bleibt es bei einem bloßen Nebeneinander der einzelnen Elemente.
Das zum Abschluß der diesjährigen Tanztheaterwochen auf Kampnagel präsentierte Stück zeigt nur Scherben, formal wie inhaltlich. Die erste Hälfte besteht aus angerissenen und wieder abbrechenden Geschichten. Einige dieser Scherben funkeln, so etwa als Hector Gonzales-Pino einen Pas de deux mit einem lockend piepsenden Mobilfunk-Telefon tanzt. Andere bleiben matt, etwa wenn Manfred Kessens das Publikum mit „Haste ma 'ne Mark“ anschnorrt und damit allzu platt auf die prekäre finanzielle Situation der Hamburger Tanztheater-Szene anspielt.
Szenen, manchmal auch nur Bilder, tauchen aus dem Nirgendwo auf und verschwinden wieder. Ein multimedialer Mahlstrom, meistens ohne Geheimnis, insgesamt ohne Zentrum, das ist der erste Teil.
Auch die zweite Hälfte folgt der Schwamm-Ästhetik: auch sie saugt alles Mögliche in sich hinein und gibt nichts mehr her. Zuerst tanzt Heidrun Vielhauer als Kassandra vor Leinwänden, auf die Wortfolgen Homers projiziert sind. Gerade hatte man sich eingesehen, da kommt schon der nächste Licht- und Musikwechsel. Jetzt gibt Rotraut de Neve die Helena, und das Spiel mündet in einen Karneval, eine Farce, einen Totentanz. Was hat das zu tun mit dem Motiv der Sehrerin, der keiner glaubt?
Wollte man nett sein, ließe sich Kassandra II, Claude Lévi-Strauss bemühend, als „bricolage“ charakterisieren, als Bastelei, die disparates Material nach Kontrasten und Analogien ordnet. Hinzugfügt werden müßte aber, daß es sich um eine Light-Version handelt. Denn auch Assoziationen bedürfen einer gewissen Konsequenz.
Will man ehrlich sein, muß man konstatieren, daß dieses Tanztheater nicht bei sich ist. Eine Auseinandersetzung mit den zu Hauf eingesetzten Mitteln findet nicht statt. Rotraut de Neve und Heidrun Vielhauer haben sich ihren Ideen und den medialen Möglichkeiten ausgeliefert. Und dahinter sind sie in Deckung gegangen - sie sind nicht mehr sichtbar. So ist der Abend vor allem eins: bunt. Und seine Protagonisten sind leider die Diaprojektoren.
Dirk Knipphals
Kampnagel, noch bis Sonntag.
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