■ Scheibengericht: Erik van Nevel
Giaches de Wert – Musica Religiosa (Accent Acc 9291D)
Eine schöne Stimme war wertvoll wie Gold, ein wohlklingender Knabensopran aber noch kostbarer. Im Zeitalter der Renaissance herrschte in Europa ein ständiger Bedarf an Sängerknaben. Hofkapellen und Kathedralchöre benötigten laufend neue Stimmen, weil Frauen das Singen in der Kirche verboten war und hohe Knabenstimmen wegen des Stimmbruchs nur eine begrenzte Zeit einsetzbar blieben. Es gab sogar Talentscouts, die unterwegs waren, um Stimmbegabungen ausfindig zu machen.
Im Heer von Kaiser Karl V., der sich in kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem französischen König Franz I. befand, war der Feldherr Francesco d'Este 1543 nach Flandern und Brabant gekommen, den damals fruchtbarsten musikalischen Landschaften. In Antwerpen war ihm der achtjährige Jachet de Wert aufgefallen, den er als „ragazzo da cantare“ (Sängerknabe) an den Hof seiner Gattin nach Avellino bei Neapel holte. Neben den Pflichten im Chor erwarb Giaches de Wert, wie er im Italienischen hieß, eine umfassende musikalische Bildung, was ihn innerhalb einer Dekade zu einem Komponisten von Rang machte. Niemand Geringeres als Cypriano de Rore, einer der führenden Komponisten der Epoche, wurde sein Förderer. Er verschaffte ihm eine Kapellmeisterstelle in der kleinen Residenzstadt Novellara. Parma und Mailand bildeten die nächsten Stationen auf dem Weg nach oben. In Mantua, im 16. Jahrundert eines der bedeutendsten Kulturzentren Italiens, residierte zu dieser Zeit Herzog Guglielmo Gonzaga, der ein kunstsinniger Herrscher und selber Musiker war. Er nahm 1562 den Bau einer neuen Kirche in Angriff, die Modellcharakter für das gegenreformatorische Rollback hatte. Sie war mit der exorbitanten Zahl von fünf Bischofsstellen ausgestattet, die direkt dem Papst unterstellt waren. Alles sollte anders werden: die Architektur, die Liturgie, die Musik. Neben Palestrina und Gastoldi erhielt auch Giaches de Wert den Auftrag, für den Neubau eine neuartige Musik zu komponieren, die gemäß den Vorgaben des Konzils von Trient verständlich sein sollte, ohne dabei die Kunstfertigkeit zu vernachlässigen.
Giaches de Wert löste die Aufgabe mit Bravour, wofür er am Tage der Einweihung zum „praefectus musicus“ (Generalmusikdirektor) ernannt wurde. In seiner Messmusik für die Kirche St. Barbara entwickelte de Wert die refomierten gregorianischen Choräle zu einer komplexen Mehrstimmigkeit, die trotzdem nichts an melodischer Klarheit vermissen läßt. Erik van Nevel und dem Currende-Vokalensemble ist es auf einer Neueinspielung gelungen, die meditativen Renaissance-Motetten makellos in Szene zu setzen, wobei das Bläserensemble Concerto Palatino der Aufnahme große Authentizität verleiht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen