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■ ScheibengerichtJoseph Leopold Neuwirth (Hg.)

Die besten Schrammeln instrumental (Trikont / Indigo US-233)

Die Violintöne der Wiener Schrammelmusik klingen selbst in den höchsten Lagen noch zart und weich. Erfunden wurde diese Spielweise von zwei akademisch geschulten Violinisten, den Gebrüdern Josef und Johann Schrammel, die 1878 von Geldnot geplagt ein Ensemble gründeten, das in den Heurigenlokalen der Wiener Vororte aufspielte. Der Klang der Gruppe war so neu und einzigartig, daß er die Zuhörer in Verzückung versetzte. „So süß, so innig, so rein spielt niemand die lieben Volksmelodien“, schwärmte das Extrablatt 1883. Wann immer die Brüder Schrammel zum Musizieren ansetzten und zum Zeichen dafür dreimal mit dem Bogen an die Geige klopften, wurde es leise im Saal. Und wer nicht augenblicklich verstummte, bekam es mit einer besonders rabiaten Spezies von Musikliebhabern zu tun, den „Schrammel-Fanatikern“, „die ernstlich bös' werden können, wenn jemand während der Musik mit dem Sessel rückt oder ein lautes Wort spricht.“

Für das Quartett von Josef und Johann Schrammel kam die Ära der Schallaufzeichnungen zu spät. Die Gruppe bestand einige Jahre nicht mehr, als Ende des vorigen Jahrhunderts die ersten Phonographen auftauchten. Allerdings ist auf ganz frühen Aufnahmen des Waldschnepfen-Terzett beziehungsweise des Original-Maxim- Quartett noch Anton Strohmayer zu hören, der legendäre Gitarrist der „Schrammeln“. Diese und andere Schätze finden sich auf einer „Early Recordings“-Produktion, die Joseph Leopold „Roland“ Neuwirth herausgegeben hat, der in Wien eine Institution ist.

Seine Gruppe „Extremschrammeln“ ist selbst mit drei Stücken vertreten, was die Aktualität der historischen Aufnahmen unterstreicht. Anhand von 21 Musikbeispielen legt Neuwirth die Seele der altwienerischen Volksmusik frei und führt in deren Geheimnisse ein. In Wien ist nichts wie es ist. Da gibt es Märsche, die so schräg klingen, daß man dazu höchstens im angetrunkenen Zustand marschieren kann, und Tänze, bei denen Tanzen überhaupt nicht gefragt ist.

Wie immer kommt es auf die Feinheiten an. Ob die Melodien in „anschmiegsamer Weichheit“ erklingen oder sich die Geigentöne durch „ganz langsame Schwingungen“ auszeichnen, daran unterscheidet sich eine Touristenkapelle von einem Meisterensemble. Und die werden immer seltener. Deswegen lauschen wir in innig-religiöser Andacht und seliger Ekstase den Klängen aus einer Zeit, als die Musiker noch wußten, wie man die Zuhörer würdevoll „anstrudelt“.

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