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Archiv-Artikel

Schamhaft

Von AK

Die Psychoanalyse definiert Scham als Schnittstelle zwischen Individuum und Gemeinschaft. Demnach signalisiert Scham einem Menschen, dass seine Vorstellung von sich, von anderen oder von seiner Umwelt nicht mit dem übereinstimmt, was er im Augenblick seiner Scham, gerade erfährt.

Scham dient ihm dazu, sein Konzept von sich zu aktualisieren, einen tauglicheren Umgang mit der Gemeinschaft zu entwickeln und sich anderen Menschen zu nähern. Scham ist das Gegenteil von Stolz, das ein Individuum von der Gemeinschaft entfernt.

In normalem Ausmaß sind Schamgefühle nichts Unnatürliches – fördern sie doch die Fähigkeit, sich emotional in andere hineinzuversetzen. Als pathologisch gilt ausschließlich, wenn ein Individuum über keine oder zu viel Schamgefühle verfügt.

Die Umstände, unter denen Schamgefühle entstehen, variieren von Kultur zu Kultur. Die Eigenschaft, sich zu schämen, ist allerdings schon in allen Epochen und überall verbreitet gewesen, erkennt Kulturanthropologe Hans Peter Duerr („Nacktheit und Scham“, 1988). Auch bei den Völkern, die ihre erogenen oder erotisierenden Zonen des Körpers in der Regel unverhüllt lassen, hat sich öffentlicher Geschlechtsverkehr als akzeptierte Form des Sexuellen nie durchgesetzt – mit Ausnahme von speziellen Ritualen in Fruchtbarkeitsreligionen.

Der Anthropologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt („Das verbindende Erbe“, 1991) bemerkte: „Oft werden Geschlechtsorgane durch Kleidung verborgen. Es gibt jedoch auch heute noch Völker, die splitternackt leben, zum Beispiel die Yanomami im amazonischen Regenwald, deren Frauen nur eine dünne Schnur um den Leib tragen. Selbst diese Schnur ist symbolisch Bekleidung. Würde man eine Frau auffordern, die Schnur abzulegen, geriete sie genauso in Verlegenheit wie eine Frau unserer Kultur, wenn man sie bäte, sich auszuziehen.“

Vor einigen Jahren kam es zum berüchtigten Streit zwischen Duerr und dem Zivilisationstheoretiker Norbert Elias, der der These von der Universalität der Scham entschieden widersprach. Laut Elias ist Scham eine durch den Zivilisationsprozess herangezüchtete „Selbstzwangsapparatur“, die nicht historisch universal sei, sondern sich mit dem Grad der Zivilisation entwickle und an Intensität zunehme.

Je stärker Fremd- in Selbstzwänge umgewandelt würden, desto weiter rücke die Scham- und Peinlichkeitsgrenze in den Individuen vor, so Elias. Sie sei Ausdruck für eine „Verringerung der direkten Ängste vor der Bedrohung durch andere Wesen“ und für eine Verstärkung der Zwänge, die der Einzelne auf sich selbst ausübe.

Aktuell ist von dem Kulturhistoriker Jean-Claude Bologne das Buch „Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls“ (Verlag Böhlaus Nachfolger, 2001, 49,90 Euro) veröffentlicht worden. Der Autor glaubt, eine Synthese beider Theorien versucht zu haben.

Anhand von Anekdoten, Schilderungen von Skandalen und Peinlichkeiten aus dem Leben prominenter Persönlichkeiten der europäischen Geschichte dokumentiert der Historiker, wie sich das Schamgefühl im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt hat.

Und, Frucht feministischer Diskurse, er fragt nach Unterschieden zwischen männlicher und weiblicher Scham. AK