Schadensbegrenzung: Die erotische Glatze

Der Münchner Hautpapst Otto Braun-Falco prophezeit: In ein paar hunderttausend Jährchen können wir uns gegenseitig kein Härchen mehr krümmen/ Am Ende steht der haarfreie Mensch/ Schon heute wirft der androgyne Mensch seine Schatten voraus  ■ Von Hanna Rheinz

Jahrhundertelang wurde uns suggeriert, daß wir uns gefälligst mit Haut und Haaren verschlingen lassen sollten. Wen wundert's da eigentlich noch, daß kurz darauf stets das große Herausgewürge folgte? Und jene, die zuvor noch lustvoll an unserem Fellchen knabberten, fanden wenig später mit haarsträubender Zielsicherheit jedes noch so einsam in der Suppe vor sich hin schwimmende Haar. Schließlich wurden unsere Schwächen bei den Haaren herbeigezogen, und nach endlosen Haarspaltereien durfte sich jeder am eigenen Schopfe, der zu diesem Zeitpunkt bereits erbärmlich viele Haare gelassen hatte, aus dem Morast herausbefördern. Unser Glück hing stets an einem Haar, und um ein Haar setzten wir es aufs Spiel.

Panik, wenn wir am Schönheitsideal des wuchernden Naturmenschen scheiterten. Nicht aufzuhaltende Entlaubungseffekte. Der Blick auf die Haarbürste: vernichtend. Der Grenzwert von 80 Verlusten pro Tag wurde wieder einmal überschritten. Im Gulli kringelt's und schlingelt's sich, bevor selbiger mit dumpfem Blob seine Abflußfunktionen einstellt. Geheimratsecken, die sich unerbittlich zur kahlen Kuppel emporfressen. Verzweifelt rennen wir zum Coiffeur, der sich, Absprachen über Schadensbegrenzungen mißachtend, selbstherrlich an uns zu schaffen macht, um Asymmetrien zu erzeugen. Irokesenschnitte, angesichts derer uns der in Rechnung gestellte letzte Schrei nun selbst entfährt. Wir lassen uns Implantate aufschwatzen und saure Dauerwellen, Lotionen und Festiger, doch schon nach zwei Wochen blickt uns wieder die fromme Helene im Spiegel entgegen, und auch der löwenmähnige Naturbursche ist bieder geworden: die sündhaft teure Fülle zusammengesackt. Außer einem empfindlichen großen Loch auf dem Konto hinterließ sie uns lediglich einige dürre und spilsige Ruinen, die wir sodann verbissen mit Aufbaukuren gegen Strukturschäden traktieren. Letzte Rettung: der Griff zum Toupet. Doch auch hier warten neue Ängste und Peinlichkeiten. Was wenn unsere wilde Attrappe verrutscht, gar von Natur- und Lebensstürmen davongetragen wird?

Hand auf den Scheitel: Darf das so weitergehen? Nein. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert endlich kam uns ein verdienter Experte zu Hilfe — der haarfreie Mensch, tönt es vom Glatzen- und Haut-Papst Otto Braun- Falco aus München, der selbst mit gutem Beispiel vorangeht, ist nahe. Nur noch ein paar hunderttausend Jährchen müssen wir warten, dann können wir uns gegenseitig kein Härchen mehr krümmen und uns keines mehr in unseren Suppen einbrocken.

Sie meinen, seine Theorie sei an den Haaren herbeigezogen? Keineswegs. Überall sieht man sie bereits: freiwillige Glatzenträger mit Mut zum Gesicht. Kernige Männer mit Biß und Lutscher, beruhigend knabenhaft wirkende Damen, Exzentriker, hygienebewußte Esoteriker, gerade der Krätze entronnene Asienreisende, ehrliche Squareheads und blankgescheuerte Eggheads. Geschlechtslose, alterlose Wesen, jenseits aller Hormoneinbrüche, die uns keine Angst mehr einjagen, haben sie sich doch bereits aller archaischen Triebsymbole entledigt. Freilich kommt nun manche charakterliche Wahrheit ans Tageslicht: das fliehende Kinn, die verdrehte Nase. Doch der Samson unserer Tage braucht seine Kastration nicht mehr zu fürchten. Die Messer haben ausgedient. Der androgyne Mensch wirft seinen Schatten voraus.

Der zugewachsene Struppi, in dessen verfilzter Haartracht sich bereits Haarlinge neckisch jagen, ist passé. Die eigene Geschlechtlichkeit zur Schau tragen, plump. Hervorquellende Brusthaare, affig und ein düsterer Vollbart erinnert allenfalls an Mittelalter und fanatische Anhänger des Fundamentalismus.

Nur eines hat der Münchner Haarprofessor nicht bedacht: Die Natur hält nichts von Gleichmacherei. Was den Männern recht ist, kann den Frauen nur billig sein. Während der androgenetische Haarausfall beim Manne eine Glatze erzeugt, beschert Androgenisierung der Frau im Gegenzug einen charmanten Oberlippen- und Kinnbart. Haare sind zuweilen sogar zwischen ihren Zähnen gesichtet worden. Von Brust- und Beinbehaarung ganz zu schweigen. Und Hirsutismus (übermäßig starker Haarwuchs) ist beileibe kein exotisches Hirsebreirezept, sondern just jener weibliche Gegenschlag der Natur, der dem männlichen Kahlschlag das Wasser reichen kann. Noch quält frau sich zwar mit allerlei Lady-Shavers und Wachspflästerchen. Das könnte jedoch bald anders werden. Eine Umwertung unseres erotischen Gouts steht längst ins Haus: der haarfreie Mann, die bärtige Frau.

Eine frisch gefettete Glatze, was könnte erotischer sein? Wer träumt in Zukunft noch von Pfirsichhaut? Kiwis kommen der Sache doch erheblich näher. Und was könnte für eine Frau stimulierender sein, als die ewig-zarte Babyhaut des haarlosen Mannes zu streicheln, die Hauerchen im weichen Fleisch versinken lassen, was anheimelnder für den Mann, als sich im warmen Pelz der Frau kuscheln, an ihren spröden Barthaaren spielerisch zupfen?