Sanssouci: Nachschlag
■ "Projekt X" – Premiere im Potsdamer Lindenpark
Zwei Mädchen tanzen in bonbonroten Ballettkleidchen. Pubertär-linkisch und hanswurstig-frech exerzieren sie gestelztes Ballett zu bedrohlicher Musik. Im Hintergrund sitzen Vater und Mutter auf einer großen Kiste und klatschen lautlos und mechanisch Beifall. Die Mädchen sind Sarah und Jacqueline, Raymonds tote Schwestern. Der Text will es, daß sie leere Häute sind – Gespenster aus jenem Schrank, den Raymond seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr verläßt. Raymond überlebt, von seiner Mutter im Schrank versteckt, als einziger seiner Familie den Holocaust.
„Die Stimme im Schrank“ hat Raymond Federman dem Gedächtnis an seine 1941 aus Frankreich deportierte und ermordete Familie gewidmet: ein fiktiv-authentischer Beschreibungs- und Bewältigungsversuch für das nicht zu Bewältigende. Der Schrank ist metaphorischer Ort, an dem Federmans erzähltes Ich immer zwölf Jahre alt bleibt und Geschichten erfindet, um Geschichte zu erklären. Das Schuldgefühl des Überlebenden provoziert die Frage: „Wie war es wirklich?“
Jacalyn Carley hat sich mit „Projekt X“, der Umsetzung dieses Textes in Tanztheater, Großes vorgenommen – und auch erreicht. Gemeinsam mit Tänzerinnen der Tanzfabrik und der Komischen Oper, dem Schauspieler Martin Schurr und den Musikern Bob Rutman, Daniel Orlansky und Rudi Moser hat sie behutsam der Notwendigkeit und der gleichzeitigen Unmöglichkeit des Erinnerns nachgespürt. Wunderbar tastet Martin Schurr die Wörter ab: frech, erstaunt und die Sätze im Munde wendend. „Während ich die endgültige abwesenheit meiner mutter erfasse“, wiederholt er; bis nur die Abwesenheit der Mutter bleibt, und nichts mehr erfaßt ist. Ein strubbeliger Junge, der verwundert der Welt des Schreckens begegnet. Er hält seinen Penis beiseite, um sich nicht an die Beine zu pinkeln und verschnürt seine ausgeschissene Angst in Zeitungspapier.
Bob Rutman und sein „Steel Cello Ensemble“ entlocken ihren bizarren Instrumenten dazu wundersam sägende Streicher- Klänge. Mitunter klettert Rutman auf die Bühne, lacht Raymond an und aus oder produziert aus den tiefsten Tiefen seines Bauches dunkle, gutturale Töne. Der Vater hustet indessen sein Blut die Treppe hinab – „Tuberkulose“, meint Raymond altklug – und die Mutter weint leise, von deutschen Soldaten davongetrieben. Sie sind jüdisch und bereits tot, wie alle auf der Bühne, alle außer Raymond, der durch sie hindurch wieselt und für Momente dazugehört. Schließlich kehrt die Familie, zu Lampenschirmen verarbeitet, zurück: groteske Bilderbuchgestalten mit hohen und breiten, großen und kleinen Schirmen auf den Köpfen, als Röckchen und Beinrosette, als Arm- und Beinschiene. Sie wanken über die Bühne, sinken in sich zusammen und verabschieden sich mit einem letzten Zucken.
Die Welt des Schreckens mit Kinderblicken zu betrachten ist der Versuch, das Mythische daran zu bannen und so Trauer zu ermöglichen. Federmanns Text ist ein Selbstheilungsversuch, der im Offenhalten der Wunde zumindest vor Versteinerung rettet. „Ich muß es noch einmal versuchen“, sagt Raymond am Ende und klemmt seine Schreibmaschine unter den Arm: „Wie war es wirklich?“ Michaela Schlagenwerth
Die Berlin-Premiere ist heute in der Theatermanufaktur, Hallesches Ufer 32; danach noch vom 22.-25. und vom 27.10.-1.11.
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