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SanssouciVorschlag

■ Kurzfilme von Stefan Hayn im Qino

Männer sind beim Pinkeln nur selten alleine. Meist stehen sie in Kneipenklos und auf Konzerten in dichtgedrängten Reihen an Becken und Pißrinnen, wie Kälber im Stall an der Tränke. Stefan Hayn paktiert mit keiner Zwangsseilschaft. In seinem S-8-Film „Pissen“ von 1989 sucht er den Ausweg auf der Damentoilette. Mit der gleichen anarchistischen Komik, die sonst Herbert Achternbusch zu eigen ist, baut sich Hayn eine szenische Idylle aus sommerlich herumlungernden Touristen im schönen Bayern zusammen. Zwischen Transvestitenträumen und Fummelpunk entwickelt sich die Biographie des Jungen aus Rothenburg o.T. anhand von verschiedenen Pinkelpassagen: Stefan als nervöser Nässer zu Hause bei seiner Mutter, in der Schule, oder beim Baden im nahen Teich, in den er aufgeregt hineinmacht. Die Tiefenpsychologie der ländlichen Kleinfamilie hat Hayn in wenigen Bildern erfaßt. Der Vater trägt eine Affenmaske und bestraft den Sohn, der später in Frauenkleidern an seinem Grab steht und eifrig die Friedhofsblumen mit einer großen grünen Kanne gießt. Dagegen erscheint die Mutter als freundliche alte Dame, die kopfschüttelnd zusieht, wie Stefan dauernd zur Toilette rennt.

Ein Großteil der Filme beruht auf Hayns Vorliebe für Bilder, die nicht die Wirklichkeit wiederholen, sondern fremdartige Details entdecken. Schon bei den ersten Einstellungen in Fontvellas Box aus dem Jahr 1991 filmt die Kamera der Varieté-KünstlerIn zwischen die Beine, deren halb aufgerichteter Penis – in Seide gehüllt und mit einer blonden Perücke versehen – sich als Parodie auf Marilyn Monroe schlängelt. Was aber aus der schrägen Perspektive im Film wie wundersame Akrobatik wirkt, ist transvestitische Tanzroutine ohne Pfiff. Fontvella wird prompt gefeuert und sieht einer traurigen Zukunft entgegen, nachdem ihr ein Bauernlümmel die Garderobe mit blauer Farbe versaut. Doch die Wut über das Mißgeschick verwandelt sich in Liebe, Fontvella legt ihr buntgeschecktes Kuhkostüm an, und dem Burschen wächst statt der schmächtigen drei Haare gleich eine ganze Wiese auf der Brust. Sie könnten zueinander passen, aber die Geschichte bleibt ohne Happy-End: „her love gone, her dreams gone and her dress is a mess“.

Auch „Klassenkampf in Amerika“ hält nicht, was der Titel verspricht. Die großangekündigte Historie zerfällt in ein Patchwork aus Randgestalten. Quer durch das Ostberliner S-Bahn- Netz verfolgt Hayn den Alltag eines fliegenden Händlers, der mit Lackblumen und eingedosten Bierdeckeln handelt, die als Leberwurst getarnt sind. Ein anderes Mal unterhält sich der Filmemacher minutenlang sehr einfühlsam über Schizophrenie mit einem Rentner, der scheinbar alle Stadien eines Foucaultschen Machtspiels durchlaufen mußte. Dem alten Mann steht Godard mit einem eingeblendeten Zitat zur Seite: „Manchmal, wenn man ganz allein ist, muß man sich verdoppeln können, sein Vaterland verraten oder eine zweite Nationalität annehmen, das heißt wirklich doppelt sein können.“ Harald Fricke

Die Filme von Stefan Hayn laufen heute um 20.30 Uhr im Qino/ Querhaus, Muskauer Straße 24., Kreuzberg.

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