Sanssouci: Betschlag
■ Richten in Charlottenburg
Milde lächelnd schüttelt der Pastor den Kopf. Nein, ich darf mich nicht in die hinterste Bank verkriechen, um nach der Predigt davonzuhuschen. In der Trinitatiskirche ist Gesprächsgottesdienst, zu diesem Zweck sitzt die Gemeinde dicht gedrängt in trauter Runde vor dem Altar. Zur Debatte steht die Bergpredigt. Aus den vielen goldenen Regeln hat Pfarrer Engelbrecht die Verse „vom lieblosen Richten“ ausgesucht: „Mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.“ Woraus die eindringliche Warnung folgt, das Richten als sündiger Mensch doch bitte gleich sein zu lassen. Im Himmel sind alle Sünden registriert, selbst die, die auf Erden niemand bemerkt hat. Angesichts dessen ist es purer Selbstschutz, der biblischen Empfehlung folgsam zuzustimmen.
Doch nun wird es brenzlig. Pastor Engelbrecht hat nichts Eiligeres zu tun, als seinen Schäfchen die lustvolle Empörung über die Enthüllungen der Yellow Press unter die sündhafte Nase zu reiben. „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge“, steht in der Bergpredigt. Mit gütigen Augen blickt Engelbrecht in die Runde und gibt zu bedenken, daß das Wissen um die eigene Sündhaftigkeit Grund genug ist, Gefängnisse suspekt zu finden. Deshalb gibt es schließlich die Todesstrafe nicht mehr, und hier finden wir auch den Grund für offenen Strafvollzug. Die Konsequenzen reichen noch weiter: Selbst wenn wir Sünden verurteilen, die wir tatsächlich selbst nie begehen, sind wir in Gefahr. Des Pastors Stichwort hierfür: Diebstahl, genauer: klauende Ausländer. Ob es nicht sein kann, daß wir es nur nicht nötig haben zu stehlen? Recht hat er, nickt die aufgeklärte Predigtkritikerin. Recht hat er auch in puncto Strafvollzug und Massenpresse, was auch immer die Gemeinde in der anschließenden Diskussion dagegen einzuwenden hat. Und soviel hat sie denn auch nicht einzuwenden. Friederike Freier
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