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SanssouciNachschlag

■ "Die Schuster" von Witkiewicz im Babylon

Theater im Kino: die rotplüschigen Vorhänge sind angestaubt, die Zuschauersitze zwar zerschlissen, aber keineswegs durchgesessen. Der angenehm heruntergekommene Kinosaal des „Babylon“ in der Rosa-Luxemburg-Straße wurde bereits in den 20er Jahren für Stummfilmvorführungen mit Livebegleitung genutzt, und schon zu DDR-Zeiten fand dort engagiertes Kino statt. Seit der Wende ist das Babylon Berlins zweites kommunales Kino – und seit Mittwoch abend eine Off-Theaterspielstätte mehr. Eingeweiht wurde sie mit einer Inszenierung des selten gespielten Stücks „Die Schuster“ von Stanislaw Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy, einem polnischen Artaud, der auch Maler und Kunsttheoretiker war und vor allem in den 20er Jahren für die Idee seines rein „formistischen“ Theaters strikt antirealistische Stücke schrieb. „Die Schuster“, sein letztes Stück, aus dem Jahr 1934, ist antipsychologisches und antimimetisches Theater, das auf einen „metaphysischen Schock“ beim Zuschauer zielt, eine phantastisch-groteske Kopfgeburt wie die Titelfiguren selbst: ein Meister und zwei Gesellen. Zu Beginn der Stücks feilen und hämmern sie im Takt, immer schneller und rhythmischer. Es sind potentielle revolutionäre Subjekte, potentielle revolutionäre Objekte, Leichtgläubige und Ungläubige, die sich gegen das „intellektuelle Gesülze“ wehren und selbst heftige, komische und philosophisch verquaste Reden halten. Eine Fürstin, ein verruchtes Luder, richtet allen Männern gleichermaßen den Schwanz auf, die ganze Gesellschaft wandert in den Knast, wird zur Zwangsarbeitslosigkeit verurteilt, woran sie beinahe zugrunde geht. Dritter Akt: unsere Schuster im Sonntagsstaat, die Verbürgerlichung hat eingesetzt. Peter Staatsmann, der bei dieser freien Produktion west- und ostdeutscher Theaterleute Regie geführt hat, nutzt diesen dritten Teil sowohl zur Persiflage auf den bürgerlich gewordenen Arbeiter-und-Bauern-Staat wie auf die scheinbar neu gewonnenen Freiheiten der Ostdeutschen. Am Ende tauchen die Politkommissare auf, die genauso gut Abgesandte der Treuhand sein könnten: sie haben nur ein Ziel, die Gleichschaltung und Ausschaltung der Massen. Witkiewicz war pessemistisch: Mit den Menschen ist die Revolution nicht zu machen, sie mündet in Diktatur. Kein Wunder, daß man das Stück zu DDR-Zeiten nie gespielt hat.

Wüste Schimpftiraden und hochtrabende Reden stehen neben unanständigen Couplets, geht es den Frauen an die Wäsche und den Männern ans Leder — dem sperrigen Stück werden Regie und Schauspieler nicht ganz gerecht. Was wohl auch schwer ist bei einem Stück, das solche Szenenanweisungen wie „Langweile. Zunehmende Langweile“ kennt. Sabine Seifert

Weitere Vorstellungen: 19.-22. 10. im Babylon (Ost)

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