Sanssouci: Betschlag
■ Vergebende Liebe im Französischen Dom
Man möge sich erneuern. Dazu sind abzulegen der vorige Wandel, die Lüge, zerstörerischer Zorn, die Lästerei, faul Geschwätz, Bitterkeit und Grimm. Wer gestohlen hat, soll arbeiten und vom Erlös den Armen geben. Vor allem aber gilt, herzlich einander zu vergeben, „gleichwie Gott euch vergeben hat in Christo“. Zehn Verse aus dem Epheserbrief des Apostels Paulus warten auf Auslegung, und Konsistorialrat Giering ergreift die Gelegenheit, weit auszuholen. Zu Gast bei der hugenottischen Gemeinde im Französischen Dom, die justament den Jahrestag des Toleranzediktes von 1785 begeht, stellt er Bibelfestigkeit unter Beweis. Er nennt korrespondierende Bibelstellen und fügt ein bißchen Strukturanalyse der Paulusbriefe im allgemeinen in seine Predigt ein. Dann erst dringt er zur Auslegung vor. An die Taufe erinnere der Text: Mit der Taufe beginnt der Mensch, ein neues Wesen zu sein. Ganz ohne eigenes Zutun geht die Wandlung nicht ab. Es gilt, sich auf die Zehn Gebote zu besinnen. Sie drücken nicht mehr auf die Gemeinde wie vormals im Volke Israel, verbunden mit dem Versprechen an die Christenheit, daß alle Missetat vergeben werde, sind sie ein Angebot zur Lebenshilfe: Zornig dürfen wir sein, nur die Sonne soll nicht über dem Ärger untergehen. Ähnlich verhält es sich mit der Wahrheit: Wir dürfen sie uns nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen, sondern müssen sie uns mit Liebe sagen. Aber warum muß Pastor Giering jetzt nach der Wahrheit im allgemeinen fragen und eine Kisch-Reportage aus Prag zu Rate ziehen? „Was ist schon Wahrheit“, rätselt er angesichts von Justizirrtümern.
Dem Konsistorialrat ist nicht verborgen geblieben, daß der „neue Mensch“ nicht nur in der Bibel auftaucht. Jüngstes Beispiel: der Staatssozialismus in der DDR. Die Lehre von der Erneuerung dürfe nicht zur Ideologie gerinnen. Spricht's und verläßt das knifflige Thema wieder. Dafür noch einmal die Quintessenz der Mahnungen des Predigttextes. Vergebende Liebe empfangen wir – Vergebung ist überhaupt das allerwichtigste: „Ziel allen Handelns sind Erbauung und Segen.“ Friederike Freier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen