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SanssouciNachschlag

■ "Easy Living" bei den Westlichen Stadthirschen

Theater ist keine Algebra: Aus zwei bekannten Größen der Berliner Theaterszene ist nicht unbedingt das Resultat errechenbar, und wenn zwei so gegensätzliche Gruppen wie das Theater zum westlichen Stadthirschen und College of Hearts ihre Ästhetiken zusammenwerfen, dann wird daraus weder sauberes Literaturtheater noch schmuddeliges Off-Musical, sondern etwas sehr Individuelles, in jedem Fall nicht Vorhersehbares – eben so etwas wie Jazz.

„EASY LIVING. Ein Jazz-Stück“ macht aus dem Freiheitsgefühl des Jazzrhythmus Inhalt und Form: Jonny hat sein Saxophon in der Metro liegen lassen. Und so läuft er aufgerieben durch seine Wohnung zwischen den Dingen des Alltags hin und her – und zwischen zwei Frauen, seiner Lebensgefährtin und seiner Gönnerin. Der heiße Rhythmus des Jazz swingt in ihm, läßt ihn kaum zur Ruhe kommen. Er rüttelt an Kleiderständern, läßt Leitern systematisch zu Boden fallen, mißbraucht Kaffeetassen, Illustrierte, ja Damenkleider, um seine instrumentenlos gewordenen Soli durchzustehen. Dominik Bender versucht mit einem Höchstmaß an Feinnervigkeit und ohne Scheu vor psychodelischem Exzeß darzustellen, wie eine Musik ihren manischen Rhythmus in ein Gesicht, in einen Körper, in ein Leben brennt. Adriana Altaras gibt neben ihm die nicht minder sensible, aber erheblich rustikalere Lebensgefährtin; Marlies Sondermann als Nebenbuhlerin ist die gönnerhafte Marquise in Blau.

Inspiriert wurde diese verblüffende Kreation durch eine Erzählung Julio Cortazars über den legendären Jazzsaxophonisten Charles Parker. Die Unbeschreiblichkeit eines musikalisch durchpulsten Lebens, die Cortazar in seinen unnachahmlichen magischen Realismus der Worte umsetzte, gerät hier zu einer jede feste, vorgeschriebene Form meidenden Gestaltung, die hinter dem Zufall die Echtheit des Gefühls sucht und vielleicht findet. Dem hemmungslosen Subjektivitätsgefühl des Free Jazz verpflichtet, hat der Abend, unterstützt von den College-of-Hearts- Musikern, folgerichtig die lockere Struktur einer Improvisation: Ablauf und Details sind nicht endgültig festgelegt und der individuellen Befindlichkeit der Schauspieler, der Musiker, der Zuschauer und des Raumes überlassen. Kein Exzeß wird gescheut, aber auch kein Leerlauf ausgelassen. Wer den Swing der irrationalen Emotionen nicht spürt oder nicht spüren mag, wird vermutlich diesen Abend, der ganz den subjektiven Gefühlslagen und der individuellen Ausdruckskraft der Darsteller überlassen bleibt, nur schwer ertragen. baal

Bis 20.12. und 7. bis 31.1. um 20 Uhr bei den „Stadthirschen“

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